Motorradtouren Baltikum Tour 1 | Litauen & Lettland Anreise

Anreise

Sonnenuntergang vor Wald mit Auto

Im Vorfeld hatten wir hin und her überlegt, welche Anreiseart für unsere Tour in Frage käme. Sollen wir durch Polen Kilometer schrubben? Die Strecke Augsburg – Vilnius beträgt etwas mehr als 1500 Kilometer. Die Masuren seien wunderschön, hört man. Werden wir jedoch von der Seenplatte überhaupt etwas mitbekommen, wenn wir das Ziel Litauen vor Augen haben? Wir schwanken je nach Tagesform und Stimmungslage: mal kippt das Zünglein an der Waage gen Überlandfahrt durch Polen, mal in die andere Richtung zur Fährfahrt.

Gegen die Fahrt auf dem Landweg spräche, dass wir eine „Tour im Baltikum”, jedoch keine „Tour ins Baltikum” unternehmen wollen. Auch die Verschleißkriterien sind nicht zu unterschätzen. Monetär gegengerechnet haben wir die verschiedenen Anreisemöglichkeiten allerdings nicht. Die Entscheidung für die Fähre* haben wir letztendlich rein gefühlsmäßig getroffen, weil sie uns am entspanntesten nach Litauen bringen würde.

Motorrad auf Autoanhänger vom Innenraum aus fotografiert

Es gibt einige norddeutsche Häfen, von denen Fähren* in die baltischen Staaten ablegen. Wir entscheiden uns für ein Schiff, welches am Samstag in Kiel ausläuft. Je später, desto besser, damit wir Zeit für die Anreise haben und die Fähre* in Kiel ist mit 23 Uhr die letzte an diesem Wochentag.

Neunhundert Kilometer bis Kiel müssen aber auch erst mal „abgesessen” werden. Diese Tortur verhindern wir, indem wir unser Motorrad auf einem Motorradanhänger huckepack nehmen. Dass dies eine sehr weise Entscheidung ist und unserer Reise eine entscheidende Wendung geben wird, können wir nicht ahnen.

Herr Lehrer
irgendwas stimmt mit Hasi nicht

Immer geradeaus auf der A7 zuckeln wir nach Kiel. Auto und Motorradhänger werden drei Wochen lang bei Kiel abgestellt. Es lief bisher alles so reibungslos! Vielleicht zu reibungslos? Wir haben das Motorrad abgeladen, Hänger und Auto an den vorgesehenen Platz gestellt und stehen fertig aufgerödelt da. Nur ein Kaubonbon mit Orangengeschmack. Leeecker ... Aber dann ...

„Herr Lehrer, irgendwas stimmt mit Hasi nicht!” In dem Fall ist Hasi in meinem Mund und zu einem Bonbon mit integrierten Backenzahn samt Krone mutiert. Du Mistding! Shit! Wieso kannst du dich nicht schon vor drei, oder sagen wir, vor zwei Wochen verabschieden? Musst du das unbedingt hier tun, kurz bevor die Fähre* ablegt? Auf zum Zahnklempner. Die Praxis des zahnärztlichen Notdienstes liegt inmitten einer für sämtlichen Verkehr gesperrten Fußgängerzone, in die wir von keiner Seite aus reinkommen. Also gut, Jochen bleibt am Motorrad und ich stiefele los.

Ich werde freundlich empfangen, man behandelt mich gerne. Super, dann wird ja alles gut. Hier meine Karte. Den Fragebogen fülle ich Ihnen natürlich aus. Ins Wartezimmer setzen? Klar... Moment mal! Dort im Wartezimmer sitzen schon acht Leute, den Rückwärtsgang rein – wie lange dauert das denn? Wie? Zwei, vielleicht sogar drei Stunden? Ach du grüne Neune!

Alles Diskutieren nützt nichts, die Menschen im Wartezimmer seien durch die Bank Schmerzpatienten, höre ich von der Sprechstundenhilfe, mit vermutlich wesentlich dramatischeren Problemen als einem weggebrochenen Zahn und vor allem mit starken Schmerzen. Die habe ich ja nicht. Auf die Idee zu fragen, ob man ihn vorließe, ist schon ein anderer vor mir gekommen und da hätte es ziemlichen Ärger gegeben. No way. Ich diskutiere mit der netten Dame an der Patientenannahme die Alternativen. Sie hätte mir auch noch eine Telefonnummer in Kiel herausgesucht, aber ob da weniger Andrang herrscht? Wohl kaum, die Chance ist gering.

Ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn Jochen ohne weitere Nachricht außerhalb der Fußgängerzone steht und ich zwei bis drei Stunden nicht wiederkäme. Mein Handy habe ich natürlich passenderweise in meiner Jacke gelassen und die hängt am Motorrad. Die Sprechstundenhilfe schlägt vor, einfach mal – jetzt und hier über die Theke hinweg – den abgebrochenen Zahn bzw. die Lücke, die er gerissen hat, zu begutachten:„Aaaaaaaaah”.

Check in Kiel

Ihr Fazit ist die vielleicht beste Nachricht des heutigen Tages: Der Zahn ist mit großer Wahrscheinlichkeit wurzelbehandelt und könnte sich vermutlich drei Wochen lang ohne Probleme in eine Baltikumtour integrieren lassen. Ihr Wort in Gottes Ohr.

Wie war das noch mal im Baltikum mit den heidnischen Göttern? Es sind eine ganze Menge. Meine Abendgebete werden heute also etwas länger dauern ...

Nächster Menüpunkt: Fährhafen Kiel. Eine halbe Stunde später stehen wir vor dem Check-in. Jochen „checkt in” und ich checke draußen die Lage. Ein kleiner, bauchiger Herr betrachtet bewundernd die BMW. Als ich seine Blicke bemerke, entschuldigt er sich, als wären Blicke verboten. Er ist litauischer LKW-Fahrer und fährt am nächsten Morgen weiter nach Frankreich und in den Rest Europas. Als ich ihm unsere geplante Route Kaunas – Vilnius – Siauliai schildere, meint er: „Falsch! Ihr müsst erst nach Šiauliai und dann nach Kaunas und Vilnius!” Dass wir solche Haken schlagen, ist ihm unverständlich.

Interesse für altes Gerümpel

Nach Vilnius höre Europa auf, gibt er zu bedenken, denn danach käme nur noch Weißrussland. Und nach Rīga und Lettland wollten wir auch? Ob es da wirklich so schön sei? Hmmm? Sein Kopf ruckt bedenklich hin und her. Unsere Sprachprobleme verhindern leider eine eingehende Erörterung seiner Bedenken. Aber Rumšiškės kennt er. Das Freilichtmuseum in der Nähe von Vilnius. Historie, sinniert er fragend. 50 oder 100 Jahre alte Häuser? Unfassbar, dass diese Deutschen sich für so altes Gerümpel interessieren, das die litauischen Bürger unter großen Anstrengungen hinter sich gelassen haben.

Mann auf Fähre mit Blick auf den Hafen von Kiel

Der Trucker verabschiedet sich, sicher trinkt er noch ein, zwei Bierchen, bevor es morgen weitergeht. Rund um den Check-in parken LKWs, beladen mit diversen deutschen, ausgemusterten Mittelklassewagen, die in den Osten geschafft werden. Einer der Wagen springt nicht mehr an, weswegen ihn fünf Fahrer mit mächtigem Schwung auf den Transporter schieben. Beim zweiten Anlauf gelingt es ihnen.

Witzig: im Kieler Hafen fährt man nicht eigenständig bis zur Anlegestelle, sondern folgt einem „Pacecar” zum Schiff. Die Optima Seaways von DFDS scheint ihr Hauptaugenmerk auf Frachttransporte und LKWs gerichtet zu haben. Es passen nur reichlich 300 Passagiere an Bord, davon sind geschätzte 250 LKW-Fahrer. Nachdem das Motorrad verzurrt ist und wir unsere Kabine okkupiert haben, kehrt langsam Ruhe ein. Die Motoren rummeln leise vor sich hin und uns sanft in einen entspannenden Schlaf. Auf dem Navi verfolgen wir, welche Route das Schiff nimmt. Östlich von uns befindet sich die polnische Ostsee küste sowie die Kaliningrader Exklave. Unser Navi zeigt einen Ort, auf den wir direkt zusteuern: Memel, oder wie er jetzt heißt: Klaipėda. Dort wird die Fähre* am späten Abend anlegen.

Wir verdödeln die Zeit an Bord und stellen sämtliche Uhren vor: Handys, Kameras, GPS-Geräte: im Baltikum gilt die osteuropäische Zeit, die Balten und damit auch die Litauer sind uns eine Stunde voraus.

Litauen | Klaipėda
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