Motorradtouren Baltikum Tour 1 | Litauen & Lettland Rückreise

Rückreise ab Klaipėda

Hafent von Klaipeda

Unsere schon vor Tagen reservierte Unterkunft in Klaipėda, das wir vorbuchten, um eine Abholadresse für das Leihfahrzeug angeben zu können, liegt in einer relativ ruhigen Seitenstraße, sehr zentrumsnah und es hat einen abgeschlossenen Parkplatz. Dies ist eine Bedingung in dem Mietvertrag. Wir wissen zwar nicht, ob es wirklich so kriminell wäre, das Fahrzeug öffentlich zu parken, aber da wir auch schon von aufgebrochenen Autos in Klaipėda hörten, gehen wir lieber auf Nummer Sicher. Es ist ein alter Bau, wie so viele Stadthotels aus der Gründerzeit. Der im Laufe der Jahrzehnte vergraute, fast schwarze Putz des Stadthauses gibt uns nicht zu denken. Der Müllcontainer daneben jedoch durchaus. Er quillt über, die Hälfte der Müllsäcke und des Sperrmülls verteilt sich über's Gelände des Hotels. Das ist der erste bewusst wahrgenommene Müll. Deshalb fällt er uns wohl auch so ins Auge. In Griechenland, Süditalien oder Albanien wäre ein solcher Müllberg Alltag, man hat sich an diese Anblicke gewöhnt. Nicht im Baltikum. Es ist alles sehr sauber, nirgends sehen wir unzulässig in der Natur entsorgten Müll, keine schwimmenden Plastikflaschen in Flüssen, keine Fastfoodverpackungen an Straßenrändern, keine gedankenlos fortgeworfenen Zigarettenschachteln. Die Straßen sind sauber, die Hinterhöfe aufgeräumt. Um so mehr schädigt so ein stinkender Müllberg den ersten Eindruck.

Altstadt von Klaipeda
Skulptur des Schwarzen Geistes

Der erste Eindruck setzt sich mit dem zweiten fort. Man hat uns wohl das allerletzte „Nur-für-eine-Nacht-Zimmer” gegeben. Das Bett ist in Ordnung. Aber der Rest ... Eine Katastrophe! Die Zimmertür schließt nur mit Gewalt, die Badtür überhaupt nicht. Schimmel am Fensterstock, ein einziges Trinkglas im Zimmer, meterhoch Staub im Schrank, zwei Strahler in der abgehängten Decke sind defekt, andere fehlen gänzlich und durch die hässlichen Löcher blickt man auf die darüber befindliche Decke. Die Plastikduschwanne steht auf 30 Zentimeter hohen Füssen, die Verkleidung hat man sich gespart.

Wegen dieser einen Nacht haben wir aber keine Lust, uns zu streiten. Was soll's – das Bett ist ja bequem. Grausam auch das Frühstück: Grauer, ungenießbarer Kaffee aus einer Art Samowar-Warmhaltekanne und vergriffenes Brot und Backwaren wird nur nach Hinweis an der Rezeption nachgelegt. Hier verdient sich wohl ein Eigentümer eine goldene Nase, solange es noch gutgeht, aber investiert keinen Cent mehr. Symptomatisch auch die Hotel-Website: darin kosten die Zimmer immer noch Litas, obwohl man in Litauen schon seit dem 1. Januar 2015 in Euros zahlt.

Alte Gassen in Klaipeda

Die Fachwerkbauten sind nicht alle als solche erkennbar, weil die Balken oft aus Brandschutzgründen verputzt wurden. An der Uferpromende stehen einige schön hergerichtete Speichergebäude aus Backstein, in denen heute Cafés, Restaurants und Geschäfte residieren. Unweit der Börsenbrücke ankert der Windjammer „Meridianas”, der zum Restaurantschiff umgebaut wurde. Wir kommen gerade richtig, um zu beobachten, wie ein Hochzeitspaar und die Brautjungfern für Fotos vor dem Schiff posieren. Unweit davon befindet sich das stilvoll in einem alten Speicher untergebrachte Old Mill Hotel*, es wäre unsere Wahl für diese eine Nacht gewesen, leider war es vollkommen ausgebucht. Damit wir das auch abhaken können: einmal vorbei an der Statue von „Ännchen von Tharau”, okay, gehört zu Klaipėda, aber auch nicht schlimm, wenn man sie nicht gesehen hat.

Wir bekamen von Uwe und Dana aus der Facebook-Gruppe wieder einen Tipp: für unser Abendessen sollten wir doch die Friedrichpassage aufsuchen, die wäre ganz in der Nähe unseres Hotels. Dieser Tipp verhilft uns zu einer letzten, typisch litauischen Mahlzeit. Wirklich gleich um die Ecke unseres Hotels und des Stadtmarktes biegen wir in eine kleine Passage ein. Links und rechts Backstein-und Fachwerkhäuser, eine Kneipe geht in die Nächste über. So was hätten wir hier gar nicht vermutet. Wenn man nicht aufpasst, schlendert man am schmalen Eingangstor vorbei.

Cepelinai und ein Riesenteller Leckereien

Wir wählen ein Restaurant mit einheimischen Gerichten, einige Meter weiter hinten in der Passage trällert eine Sängerin zu Saxophon-Klängen. Ein hektischer, aber total lieber Kellner bedient uns, vermutlich ein Anfänger oder eine Aushilfe, oder beides. Er flitzt und rennt. Alles richtig zu machen scheint sein oberstes Gebot zu sein. Goldig. Wir haben uns in die Innenräume gesetzt. Draußen wird es uns schon zu frisch. Zwar stehen überall große Körbe mit Fleecedecken herum, aber trotzdem ... Hier drin ist es angenehmer. Die Litauer sind da durchhaltefreudiger, auch bei 14 °C ... Hauptsache draußen!

Als ich zum Abschluss Campari Orange bestelle, eilt unser liebster aller baltischen Kellner davon. Wir witzeln noch, dass nun bestimmt in Kürze ein Glas Campari und ein weiteres Glas Orangensaft vor mir stünde. In östlichen Ländern ist dieses Mixgetränk offenbar nicht so geläufig. Das kenne ich schon. Nach einer Minute kommt ein anderer gewetzt und hält mir fragend einen Tetrapack Orangensaft hin ... Ja, genau das. Kurze Zeit später steht ein Glas Campari und ein Glas Orangensaft vor mir.

Letzter tag und erster Versuch
Windjammer in Klaipeda

Nächster Morgen. Entsetzt und fassungslos ist der Blick der Hotelangestellten an der Rezeption, als wir sie fragen, ob wir unser Gepäck bei ihr abstellen dürfen. Sicher versteht sie, dass es für mehrere Tage sein solle. Als sie begreift, dass es nur für einige Stunden sein soll, wirkt sie erleichtert. Um zehn Uhr übergeben wir den Mietwagen an einen Mitarbeiter der Vilniuser Mietwagenfirma.

Mittags sind wir mit Uwe und Dana verabredet. Sie holen uns ab und packen unsere drei Riesentaschen in den Kofferraum. Ein letzter Tag in Litauen liegt vor uns. Wir können nicht ahnen, dass es noch eine Fortsetzung gibt (die wir aber liebend gerne weggelassen hätten).

Wir fahren zu einem Hyper Maxima XXX. Hyper – das klingt nach groß und das ist es auch. Sogar eine Eislauffläche ist in die Shoppingmeile integriert. Wir kaufen für den Grillabend ein. Es ist ja genug Zeit, bis die Fähre* fährt. Die Preise erstaunen uns: Grundnahrungsmittel wie Mehl, Butter, Milch oder Eier sind teurer als in Deutschland. Auch Alkohol ist teurer, was wohl auch politisch gesteuert ist. Dafür sind einige regionale Produkte zu gemäßigten Preisen zu haben. Aber alles was importiert werden muss, ist unerschwinglich, gemessen am Mindestlohn. Der Mindestlohn beträgt 300 Euro.

Einkaufen bis mindestens 22 Uhr
Da verdient sich das Mütterchen noch paar Euros zu ihrer mageren Rente.

Die meisten Menschen, insbesondere die ältere Generation, lebt oft nur vom Mindestlohn oder hat sogar empfindlich weniger. Das Leben ist nicht gerade leicht. Kein Wunder, dass der eigene Garten und die Pflanzen, die darin wachsen, einen hohen Stellenwert haben. Man kann zwar davon nicht leben, von den eigenen Tomaten, Gurken und Paprikas, jedoch bereichert es den Speisezettel etwas.

Dienstleistungen dagegen, zum Beispiel Frisör und Taxi, sind für unser einen immer noch sehr preiswert. Auch der Restaurantbesuch schlägt etwa mit der Hälfte der deutschen Zeche zu Buche. Betrachtet man den Durchschnittsbruttolohn von etwa 600 Euro, das entspricht kaufkraftbereinigt etwa 1000 Euro, ist es verwunderlich, dass die Kneipen so voll sind und dass kaum Personen zu sehen sind, die ärmlich und nachlässig gekleidet sind. Im Gegenteil, was den Style anbetrifft, vor allem der Damen, sahen wir in keinem Land der Welt so viele elegant und geschmackvoll gekleidete Damen. Mit meiner sportlichen Softshelljacke komme ich mir inmitten der elegant gekleideten Mitmenschen fast schäbig vor. Wie im Kartoffelsack auf einem Galadinner.

Uwe und Dana leben in Deutschland. Dana wurde in Klaipėda geboren und siedelte vor 15 Jahren nach Deutschland über. In Šventoji haben die beiden für eine Woche Urlaub eine Holzhütte am Meer gemietet. Die Hütte liegt in einem Ferienareal direkt am Fluss Šventoji, der nur 50 Meter entfernt ins Meer fließt. Es sind um die 15 °C und der Himmel drückt grau auf's Gemüt. Das ist erst der zweite etwas trübere Tag während unserer Tour. Entweder haben wir Glück mit dem Wetter oder eine beständige Großwetterlage hat uns massig sonnige Tage beschert. Zum ersten Mal packe ich den dicken Pulli aus.

Dana verschwindet zum Grill-Organisieren um die Ecke. Wie praktisch: der Grill ist bei einer anderen Hütte gerade wieder frei geworden. Nur der Transport in die fünfzig Meter entfernte Hütte wird eine heiße Angelegenheit: er ist noch mit Glut gefüllt. Unsere Gastgeber fädeln die typischen Schaschliks der Litauer auf: 50 cm lange Spieße, auf die kinderfaustgroße Fleischstücke gesteckt werden. Das Fleisch bleibt bei dieser Größe schön saftig und wird nicht so trocken.

Der Fluss neben der Hütte ändert plötzlich seine Fließrichtung: statt auf das Meer zuzufließen, strömen die Wellen in Richtung Land. Der Wind hat mächtig aufgefrischt, ein hoffnungsvolles Zeichen, dass er auch bald die Wolken fortblasen könnte. Was er dann auch tut. Das Meer bäumt sich mächtig auf und bildet schäumende Wellenkronen.

Der ballermann Litauens
Seebrücke in Palanga
Strand in Palanga

Nach dem Essen brechen wir auf, um langsam wieder in Richtung Klaipėda zu fahren. Mit einem Abstecher nach Palanga, dem Ballermann von Litauen. Eine breite Promenade ist den Fußgängern vorbehalten und endet am Meeresstrand und der Seebrücke. Aus den Restaurants schallt Livemusik, vom swingenden Jazz bis zum russischen Schlager ist für jeden Geschmack und jede Nationalität etwas dabei. Die Buden bieten Snacks und Getränke an und junge Männer umkreisen uns behände mit schnellen Elektro-Stehrollern. Die Polizei ist ebenso mit diesen Dingern unterwegs.

Ein wunderschöner letzter Abend, am Ende noch mit Sonne und blauem Himmel, zudem ein Abend mit zwei Menschen, die wir sehr mögen – was will man mehr?

Uwe und Dana fahren uns zum Hafen, schließlich soll heute Nacht um ein Uhr die Fähre* ablegen. Wir sind zwar noch früh dran, Dana meint, zu früh, aber wir versichern ihr, dass wir gerne warten und uns einfach hier etwas hinsetzen. Es ist echt noch nichts los, ein paar Autos stehen herum und auch noch ein Motorradfahrer, aber ansonsten sind wir die ersten. Denken wir ...

Ein brett bitte!
Erfrischend: 13°C Wassertemperatur

Was jetzt kommt, war für uns erst mal ein sehr starker Tobak und schwer zu schlucken. An einer bestimmten Stelle der Geschichte dachte ich, mich tritt ein Pferd – ich wollte auf der Stelle in den Erdboden versinken und nie mehr auftauchen. In dieser Zeit kreisten meine Gedanken nur um: das schreib ich nicht! Nie, nie, nie, niemals! Das ist ja so was von peinlich, wie kann nur ein derartiger Scheiß passieren? Wir bereisten schon so viele Länder, buchten Fähre*, von zu Hause aus, aber auch aus einem Haschisch verräucherten, marokkanischen Internetcafé, wir meisterten Pannen in fremden Ländern ... und dann das. Ich versinke vor Schmach! Nun, mit einigem Abstand tasten wir uns an diese Schmach heran.

Wir sitzen also um 21:30 Uhr im Warteraum vor den Check-in-Schaltern. Als um 23 Uhr die Jalousien der Schalter nicht hochgehen, sind wir beunruhigt. Kein Mensch zu sehen, auch keine anderen Reisenden ... Also wieder raus zu dem anderen Motorradfahrer, der bei seinem Motorrad wartet. Ich suche einen Hafenangestellten oder Zöllner, der hier irgendwo um die Ecke in seinem Büro hocken muss. Irgendwer muss mir doch eine Auskunft geben können! Als ein Zöllner die dunkle Gestalt vor seinem Büro sieht, hinter der Schranke, wo eigentlich kein Unberechtigter hingehört, kommt er sofort raus. Nach einigem Diskutieren wird mir ganz übel. Der Zöllner meint (falls ich ihn mit seinem gebrochenen Englisch richtig verstand), heute würde kein Check-in mehr öffnen. Wieso nicht? Verstehe ich ihn nicht? Versteht er mich nicht? Diese Fährüberfahrt hatte ich von unterwegs aus Lettland umgebucht, da wir wegen des havarierten Motorrads und des Transportschadens einige Tage früher nach Hause wollten. Es gab also keine Tickets oder dergleichen, sondern nur eine Bestätigung per Mail.

Diese Nacht lege keine Fähre* mehr ab, eröffnet er mir. Sondern letzte Nacht um ein Uhr ... hätte eine abgelegt .............. Whommmmmm! So eine gequirlte Sch.... Letzte Nacht? Wir haben doch heute den 14.06.? Genau, haben wir ...

Oh heiliger Bimmbamm! Klar, am 14.06. um 1 Uhr! Schlagartig phantasiere ich, in meinen Händen befände sich ein 50 Zentimeter langes Brett. Ich höre es krachen. Whomm! Whomm! Whomm! knallt es gegen meine Stirn. Ich hatte angesichts des Datums noch gedacht, passt, wir sind dann am späten Abend in aller Ruhe am Hafen. 23 Uhr Check-in. Vorher noch einen gemütlichen Tag mit Uwe und Dana ...

Was passiert uns noch alles? Zahn abgebrochen. Vermutlich das Getriebe geschrottet. Das defekte Motorrad auf einem litauischen Sprinter unsachgemäß verzurrt, mit dem Ergebnis: Transportschaden an Maschine und Koffer. Wir dachten, das reicht an Pannen für eine Reise? Scheinbar nicht. Ich weiß das zum aktuellen Zeitpunkt noch nicht: auf der Heimfahrt in Deutschland geht es noch weiter mit den Pannen.

Wir beratschlagen. Was tun? In der Check-in-Wartehalle auf den harten Holzstühlen die Zeit bis zur nächsten Abfahrt aussitzen, also eine komplette Nacht bis zum Nachmittag um 15 Uhr? Oder jetzt kurz vor Mitternacht noch ein Hotel suchen??? Aber wie kommen wir da hin? Mit welcher Telefonnummer ruft man ein Taxi??? Von alledem gibt es kein einziges Foto! Wir hatten anderes im Kopf als diese Situation auch noch im Bild festzuhalten. Eher möchte man solche Erlebnisse ja ganz schnell vergessen.

Angesichts der Tatsache, dass auf dem nächsten Schiff schon vor einer Woche keine Kabinen mehr buchbar waren und eine mit Sicherheit schlaflose Nacht im Sitzen nicht unbedingt zu einer meiner Lieblingsbeschäftigungen zählt, entscheiden wir uns für das Hotel.

Mist, mein Handy zeigt nur noch 3 % Akkulaufzeit, die Buchung würde es voraussichtlich nicht durchstehen. Jedoch ist die Booking.com-App nur dort installiert. Jetzt ruhig bleiben! Jochen tauscht die Akkus zwischen unseren baugleichen Handys. Ahhhhh, 30 % – das sollte reichen. Die Booking.com-App ermittelt per GPS die Hotels in der Nähe unseres Standorts. Das nächste Zimmer ist 5,7 km Luftlinie entfernt. Ich buche das Hotel und rufe es eine Minute später an: sie sollen uns bitte ein Taxi ans Ferryboat-Terminal schicken. An welches? Himmel! An welchem sind wir denn? Gibt es denn mehrere? Nach einiger Stammelei nenne ich den Zielort „Kielus” – jetzt ist alles klar.

Zwanzig Minuten später steht ein kleines, verbeultes Taxi vor der Tür. Der Fahrer setzt zu einer halsbrecherischen Fahrt an. Den Taxameter schaltet er natürlich nicht ein. Ich würde liebend gern über diesen Umstand diskutieren, aber Jochen zischelt, dass eine Diskussion über diesen zugebenermaßen ärgerlichen Umstand in der jetzigen Situation nicht zielführend wäre. Er hat ja Recht, ich halte schon die Klappe. Aber nur mit Widerwillen.

Unser Chauffeur hat es eilig, rast mit 105 km/h über die breiten Straßen, auch in der Stadt reduziert er seine Geschwindigkeit nur marginal auf 80 km/h. Gut, dass ich irgendwann auch den Sicherheitsgurt fand. Nach kurzer Zeit bremst uns ein Long-and-Wight-Vehicle-Sonderttransport aus. Nichts geht mehr. Na super! Das passt perfekt in unser Worst-Case-Szenario. Als er abbiegt, um den Schleichtransport zu umgehen und die bisherige Rallye-Fahrt wieder aufnimmt, atmen wir erleichtert auf. An der Rezeption gibt es noch eine kurze Diskussion, weil das Zimmer plötzlich das Doppelte kosten soll, aber da wir den Preis fest über booking.com gebucht haben, klärt sich das schnell.

Baltic Truman Show
Fähre. Das wäre Ihr Preis gewesen ;-)
Fähre. Das wäre Ihr Preis gewesen ;-)

Am nächsten Morgen nutzen wir die Check-out-Zeit bis 12:00 Uhr optimal aus, kaufen noch ein, heben etwas Bargeld ab und drucken die nächste Buchungsbestätigung für die Fähre*. Ja, wir taten es schon wieder: wir haben gebucht und auch eine Bestätigung dafür. Einfach in den Hafen zu fahren wären zwar das Einfachste gewesen, aber wir haben schon so viel Geld in den Ostseesand gesetzt ... Über das Fährbüro des ADAC gebucht, sparen wir uns 30,– Euro und zahlen 154 statt 184 Euro (zwar nur mit Pullman-Sitzen, doch wir haben keine Wahl).

Mit dem Taxi geht es ein weiteres Mal zum Hafen. Und natürlich wieder ohne Taxameter. Während wir für die halsbrecherische Fahrt letzte Nacht 15,– Euro berappten, sind dieses Mal nur zehn Euro fällig, allerdings auch ohne Taxameter. Mit Taxameter hätte uns das ganze wohl nur 5,– Euro gekostet, aber egal, wir haben keine Lust auf Diskussionen. Auch die Check-in-Schalter sind geöffnet, als wir ankommen. Geht doch! Das sieht doch gleich ganz anders aus. Unsere Boardingcards sind ruckzuck gedruckt. Leider wird auch unsere Frage verneint, ob nicht vielleicht doch eine Kabine gaaaanz kurzfristig wieder frei geworden wäre. Na ja, man kann's ja mal versuchen.

Per Whatsapp erfährt Uwe schnell noch von unserem Fährendesaster. Unsere Reise wäre der reinste Comic, schreibt er zurück. Kein schlechter Vergleich! Letztendlich hat man uns zu Hauptdarstellern deklariert, uns jedoch über diesen Umstand im Unklaren gelassen? Nun sind wir gespannt, wie hoch die Gage für unsere Hauptrollen ausfällt. Vielleicht leben wir in einer neuen „ Truman Show”? Eine „Baltic Truman Show”?

Die Sicherheitsshow im TV ist witzig. Und dürfte von allen Passagieren verstanden werden.
Die Sicherheitsshow im TV ist witzig. Und dürfte von allen Passagieren verstanden werden.

Als wir auf der Fähre* ankommen und mit dem Lift vom Autodeck einige Stockwerke nach oben fahren wollen, passiert: nichts. Shit! Soeben hat der Fahrstuhl bei anderen Passagieren doch noch funktioniert! Wir drücken alle möglichen Knöpfe. Nichts, niente, der Lift rührt sich keinen Millimeter. Ist das unsere negative Energie?!? Schließlich fährt der Lift wieder, jedoch zu früh gefreut: nach einer Etage gibt er wieder auf. Also wuchten wir unsere drei Mordstaschen die Treppen über die letzten zwei Etagen hinauf. Oben angekommen, drehen wir uns um und entdecken: Der Lift folgt uns – leer. Sakra! Hoffentlich geht das Schiff mit uns nicht unter!!!

Unweit der Rezeption entdecken wir große Schließfächer. Dort verstauen wir unser komplettes Gepäck. Super! So muss nicht einer von uns beiden immer bei den Taschen bleiben. Dann tuckert sie los, unsere Fähre*. Endlich, wir schwimmen! Jetzt kann nichts mehr daneben gehen! Denken wir zumindest. Als wir zurückgehen zu den Schließfächern, ist die Tür davor verriegelt und verrammelt. Das gibt's doch gar nicht! Gott sei Dank treiben wir einen Sicherheitsoffizier auf, den wir überreden, die Tür noch mal zu öffnen und wir alles herausholen können, was wir für die Nacht brauchen.

In den Pullmansitzen dösen wir ab Mitternacht nur eine Viertelstunde, dann schlagen wir unser Lager auf den Polsterbänken des geschlossenen Barbereichs auf. Wenigstens liegt man in der Horizontalen und auf gepolsterten Flächen. Über uns hängt ein großer Flachbildschirm an der Wand. Unser Wecker ist die russischsprachige Sendung, die am Morgen einer der LKW-Fahrer einschaltet. Dobraje utra, Towarischtsch! Jetzt sind wir wach.

Mein Zahnarzt wird Augen machen
;-)

Der Rest ist schnell erzählt (eine Panne ham'mer noch) ... Wir fahren mit dem eigenen Auto von Kiel gen Heimat in den Süden. Dana hat uns an unserem letzten gemeinsamen Tag in Klaipėda noch eine Tafel Laima-Zartbitterschokolade mitgegeben, welche wir zu den Mineralwasserflaschen ins gekühlte Handschuhfach legen. Die Schokolade aus der 1870 gegründeten Süßwarenfabrik Laima in Rīga/Lettland ist eine Legende und jeder, der nach Lettland fährt, wird wohl auf jeden Fall drei Dinge kosten: das dunkle, malzige Brot, den Kräuterlikör „Rīgaer Balsam” sowie eben diese Laima-Schokolade. In Litauen müssen unbedingt Cepelinai auf der „Verkostungsliste” stehen, sowie Šaltibarščiai – sprich: Schaltibarschtschäi – und Kümmelkäse.

Das lettische Nationalgetränk, zwei kleine Flaschen des „Schwarzen Balsams”, kauften wir natürlich auch, zwei verschiedene Sorten von insgesamt dreien. Der Rīgaer Apotheker Abraham Kunze hatte den Balsam Mitte des 18. Jahrhunderts unter anderem aus Wermut, Muskat und Heidelbeeren gemischt. Er enthält 45 % Alkohol. Viele Letten bezeichnen ihn pur als ungenießbar. Und da haben sie Recht, das Original schmeckt nicht wirklich. Vielleicht bei Magengrummeln. Weil man sich einbildet, es würde helfen. Aber lecker geht anders. Die Letten verdünnen den Schnaps gern. Und zwar mit Schnaps, vorzugsweise Wodka (ja, sie nennen es „verdünnen”). Oder mit Cola. Die Variante„Heidelbeer”(Etikett mitviolettem Einschlag) mundet allerdings ganz gut.

Aber zurück zur Schokolade. Als ich ein Stückchen der gekühlten Leckerei abbeiße, wundere ich mich über die harte Nuss. Doch es ist keine Nuss, es ist ein zweiter Backenzahn, zur Abwechslung auf der anderen Seite! Jede Schwangerschaft kostet einen Zahn, sagt man. Bei mir ist es keine Schwangerschaft, sondern eine Baltikumtour. Mein Zahnarzt wird Augen machen!

Alte Gebäude haben auch ihren Charme. Nur ob man selbst darin wohnen möchte?

Das war's dann mit unserer BDT, Baltikum Desaster Tour, wie Jochen unsere Reise scherzhaft getauft hat. Das Gefühl zu dieser Tour – währenddessen sowie danach – ist trotz dem Desaster dennoch ein sehr angenehmes, wohlwollendes, warmes. Denn trotz aller Pannen, Unwägbarkeiten und Schussligkeiten wird uns diese Reise unvergesslich sein und bleiben. Klar, natürlich auch wegen der Pannen – sonst hätte man ja nichts zu erzählen – aber wir haderten an keiner Stelle mit dem Schicksal.

Es ist eine interessante Melange aus Ost und West. Wer sich noch nicht ein gehend mit dem Baltikum beschäftigt hat, weiß vielleicht gerade mal, wo sich die drei baltischen Länder befinden. Irgendwo im Norden, ehemaliges Russland, soweit kommen die meisten. Manche verwechseln es auch mit dem Balkan. Erst einmal hat uns die Landschaft unwahrscheinlich in ihren Bann gezogen, allen voran die Gebiete, die jahrzehntelang als Sperrgebiete kaum zugänglich und dadurch nur wenigen Veränderungen unterworfen waren. Von den Menschen in beiden besuchten Ländern schlug uns viel Interesse, Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft entgegen.

Souvenirs
Idylle am Ostseestrand
Souvenirs, Souvenirs

Die Sowjetära ist noch längst nicht komplett ausgelöscht, jedoch auch nicht mehr so präsent, wie man es erwartet hätte. Oder auch nicht erwartet hätte, denn das jahrhundertelange Erbe der Hanse und des Deutschordens darf man nicht außer Acht lassen. Es hat die Kultur und die Traditionen entscheidend geprägt. Sowieso wird man mit einigem Missfallen betrachtet, wenn man die litauischen bzw. die lettischen Traditionen mit den russischen in einen Topf wirft. Die ungeliebte sowjetische Vergangenheit möchte man aus löschen, so schnell es geht. Der Anteil russischstämmiger (und -sprechender) Einwohner ist jedoch so riesig, dass jedes Land untrennbar mit Russland verbunden ist, ob es will oder nicht.

Mit der russischen Sprache kommt man in manchen Gebieten mit der russischstämmigen Einwohnerschaft in Kontakt, bei den Letten und Litauern beißt man mit Russisch jedoch auf Granit. Vielleicht verstehen sie es. Aber sprechen? Niemals!

Im Jahr 2010 wurde in Lettland eine Blogspot-Umfrage gemacht. Da war gefragt, was „typisch lettisch” sei. Platz 1 belegte das Mittsommernachtsfest. Platz 2: Russisch verstehen, aber nicht reden wollen. Die restlichen acht Platzierungen: Pilze sammeln, lieber Englisch als Russisch reden, Lieder mit lettischen Texten mögen, ein kleines „Landhaus” haben, selbst beim Sängerfest singen, Beeren sammeln, Gemüse im eigenen Garten ziehen, den erstgeborenen Sohn Jānis nennen. Nach den ersten zehn Plätzen findet sich im Mittelfeld, es sei typisch, schicke Kleidung zu tragen und mehrfach zu heiraten. Ganz weit unten in der Beliebtheitsskala ist: pünktlich und penibel zu sein, Fußball zu spielen (Eishockey ist beliebter), möglichst nah zusammen mit anderen zu leben.

An der Modernisierung des Landes wird mit Hochdruck gearbeitet. Viele Bauvorhaben können jedoch nur mit EU-Mitteln ausgeführt werden, denn die drei Länder haben aktuell erst 75% der Wirtschaftsleistung der restlichen EU-Länder erreicht. Derzeit fließt von der EU knapp 25% des Bruttoinlandsproduktes als Zuschuss in die drei Staaten.

Straßen im Baltikum. Nicht immer, aber immer mal...

Die Straßen sind besser als erwartet. Klar, sie sind schon mal geflickt, holprig, rissig und wellig. Und natürlich gibt es auch noch mehr als genug Pisten, ungeteerte, staubige Schotterstrecken. Wir fuhren auf Straßen, bei denen in der Mitte nur ein Fahrstreifen Asphalt aufgebracht war, bei Gegenverkehr musste jeder auf den unbefestigten Randstreifen ausweichen. Und trotzdem: im Großen und Ganzen sind die Straßen gut, vor allem, wenn man Vergleiche zu Verkehrswegen in anderen Ländern ziehen kann. Wer behauptet, es gäbe im Baltikum schlechte Straßen, der sollte nach Rumänien und schließlich als Steigerung nach Albanien fahren: DIESE Straßen sind schlecht, nicht die im Baltikum!

Dass wir Estland wegen unserer Havarie nicht besuchen konnten, ist im Endeffekt gar nicht so schlimm. Schließlich kommen wir wieder! Denn eines steht bombenfest: es wird eine zweite Tour geben, und dann natürlich auch mit Estland, unbedingt.

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