Vergebliche Suche nach dem Traumstrand

Kolberg, im Westen an der Ostsee gelegen, ist für uns nur ein Punkt, um der Ostsee Guten Tag zu sagen. Hier beginnt unsere eigentliche Tour. Wir wollen das Land im Uhrzeigersinn erkunden. Schon im Vorfeld wird uns bewusst, dass es kein leichtes Unterfangen sein wird, Polen in nur drei Wochen kennenlernen zu wollen. Wir werden Abstriche machen müssen, Zentralpolen lassen wir ganz außen vor und widmen uns ausschließlich Nord- sowie Südpolen. Unser erstes Ziel liegt südwestlich von Danzig: die kaschubische Schweiz.
Bis dorthin warten noch rund zweihundert Straßenkilometer auf uns, von denen wir hoffen, dass sie ganz unterhaltsam sein werden. Am Anfang bilden wir uns ein, so nah wie möglich an der Ostsee entlang fahren zu wollen. Vielleicht gibt es ja so herrliche Strände wie in Lettland und Estland. So richtig romantisch, wo man einfach unweit des Wassers stehen bleiben kann, die Füße in den warmen Sand bohrt oder sie in der frischen Ostsee abkühlt? Wo man allein ist. Oder zumindest fast allein. Naja. Träumen muss erlaubt sein. Noch haben wir leider keinen solchen Strand entdeckt.
Das Örtchen Unieście kann sich nicht entscheiden: Fischerdorf oder Seebad? Es ist der erste Ort, in dem so richtig der Bär abgeht. Hunderte Urlauber schlendern über die Gehwege, die gesäumt sind von Souvenirbuden, Restaurants, Zäunen mit Wolne-Pokoje-Schildern (Freie Zimmer). Die Straßen hier sind geflickt und holprig. Aber wenig später genießen wir die Fahrt auf einem niegelnagelneuen Asphaltband, das auf einer 500 bis 700 Meter breiten Nehrung entlangführt. Zur Rechten der Jeziero Jamno (Jamunder See) und zur Linken die Ostsee. Fahrradfahrer kreuzen unseren Weg und grüßen sehr freundlich. Das Meer versteckt sich hinter dem Küstenwald, wir bemerken es am salzigen Duft, aber sehen es erst, als wir einen Kanal überqueren und einen Blick auf die aufgewühlten, schaumgekrönten Wellen werfen können. Und schwupps, ist die Ostsee wieder hinter dem schmalen Streifen Küstenwald verschwunden, der vor allem von Laubbäumen gebildet wird.
Zwischendurch lassen wir unser Navi „Steffi“ das Zepter in die Hand nehmen. So lernen wir einige Schotterstrecken kennen und nutzen Ortsverbindungen, die aus zwei Spuren Rasengittersteinen bestehen. Dazwischen durchqueren wir Orte mit unspektakulärem Tourikram. Nun reicht's, unser Traum der einsamen Ostseestrände wird hier nicht erfüllt – also schlagen wir einen Haken in Richtung Süden bis zur Straße mit der Nummer 20: ein schön glattes Asphaltband, das sich in perfekter Linie in die Landschaft schmiegt.

Mit zwei Gutankommerbieren am See


Das Motorrad ist noch nicht mal abgepackt und auch das Bier noch halbvoll, da steht auch schon das Abendessen in der rustikalen Gaststube auf dem Tisch. Zuerst Suppe, Krautsalat, Möhren- und Gurkensalat, dann Kassler mit Pilzen, dazu kleine Kartoffelknödelchen und geschmortes Mischgemüse. Nach dem Essen sind wir sowas von satt! Gott sei Dank fragte man nicht, ob wir noch einen Nachtisch vertrügen. Wir hätten glatt ablehnen müssen!

Unterwegs in einer besonderen Schweiz

Keine Ahnung, wer auf die Idee kam, das Ganze hier „Schweiz“ zu nennen. Man kennt die sächsische Schweiz, die böhmische Schweiz und auch die fränkische Schweiz. Da spielen immer mehr oder weniger mächtige, hoch aufragende Sandsteinfelsen eine Hauptrolle in der Landschaft. Das hier ist eher ein Hügelland, jedoch zugegebenermaßen eines, das begeistert.
Der bekannteste Landsmann der Kaschubei ist Günter Grass, er nannte sich selbst gern einen Kaschuben. In der Blechtrommel kam der Großmutter von Oskar Matzerath eine ganz besondere Bedeutung zu, denn sie sprach unter anderem diesen netten Ostpreußendialekt, den wir jedoch leider während unserer Tour nicht zu hören bekommen. Es wird wohl auch nicht mehr viele Menschen geben, die ihn noch sprechen.

Alle Fünfe gerade sein lassen
Ich überlege gerade, ob mir irgend etwas „Kaschubisches“ schon in meiner Kindheit über den Weg gelaufen sein könnte. Als Leseratte waren mir manche Landstriche bereits als zehnjähriges Kind ein Begriff, ohne wirklich zu wissen, wo die Regionen sich befinden, in den die Geschichten spielen. Märchen aus dem Eulengebirge. Geschichten aus der Walachei. Jeder kennt die Walachei, die sprichwörtlich ganz weit weg und ganz abgelegen ist. Dass die Walachei in Rumänien liegt, wusste ich damals nicht. Kannte ich auch die Kaschubei? Sicher gab es „Kaschubische Sagen“? Klänge auf jeden Fall geheimnisvoll, wie im Fernen Osten. Dass diese Kaschubei dann doch so nah liegt, nur tausend Kilometer von Süddeutschland aus gemessen, also eher im „Nahen Osten“ – wer hätte das gedacht?
In meinen Büchern waren diese Regionen gemütlich, altertümlich, die Zeit schien still zu stehen. Klar, es waren Bücher, die, als ich Kind war, auch schon Jahrzehnte auf dem Buckel hatten. So erwarte ich also unbewusst eine gemütliche, ruhige Gegend, in der wir alle Fünfe gerade sein lassen können. Wenn wir wollen. Und wie wir wollen!
Kartuzy | Karthaus