Motorradtouren Albanien Südalbanien Gjirokastër

Von Ksamil nach Gjirokastër

Einfahrt in einen Baustelle mit Motorrad und Karren in Ksamil.

Nach dem Frühstück suchen wir in Ksamil erst einmal einen Geldautomaten, um die albanische Währung Lek zu besorgen. Bisher zahlten wir mit Euro, aber auf Dauer wollen wir uns nicht darauf verlassen, außerdem ist es bei Kleinbeträgen besser in der Landeswährung zu zahlen. Es wird auch garantiert nicht jeder Euro nehmen.

Unweit der Bank mündet eine im Bau befindliche Straße ein, die wir gestern mieden, weil wir unserem Zweirad den Schotter nicht zumuten wollten. Wobei der Schotter eher grober Bauschutt ist. Wir trauen unseren Augen nicht: da kommt soeben ein (... na ja) Mopped-Fahrer auf dieser Piste auf uns zugefahren. Was heißt gefahren... gehoppelt. Er hat so ein umgebautes Mopped-Dreirad, mit dem man hier in Albanien verschiedene Frachten befördert. Er schwankt wie auf dem Meer bei hohem Seegang, sein Gefährt legt sich in dem losen Geröll mal in die Richtung, mal in die andere. Herrlich anzusehen. Aber selber fahren? Nee nee. Wir nehmen lieber den Weg außen rum.

Bankomat: tilt!

Der Bankomat bietet ein Menü in Deutsch an. Doch an einem bestimmten Menüpunkt zeigt er nur noch kryptische Zeichen. Also nochmal. Wieder das Gleiche. Bedeutet das anhaltende Piepsen: Karte eingezogen????? Super! Mir wird heiß! Nach einiger Bedenkzeit spuckt der Automat die Karte wieder aus (Gott!Sei!Dank!), jedoch kein Geld. Im Schalterraum sitzen einige Kunden und warten, bis sie dran sind. Also stelle ich mich mit Walter dazu. In Albanien scheint man überall Geduld zu brauchen. Schließlich begleitet uns ein Schalterbeamte nach draußen und hilft uns, mit englischer Menüführung einen größeren Betrag abzuheben. Die Erklärung für den zweimaligen Misserfolg lautet "He doesn't work in german language"! Da sind dem Programmierer wohl die deutschen Begriffe ausgegangen?

Blick auf die Festung von Butrint

Verwundert registriere ich außerdem, dass es offensichtlich kein Limit gibt, zumindest keines, das die Abhebung von 75.000 Lek (umgerechnet rund 550,– Euro) verhindert. Das haben wir bisher noch nirgends erlebt: meist musste ich zumindest den Vorgang wiederholen, um mehr Bargeld zu bekommen. Bei späteren Barabhebungen erspare ich mir den Herzkasper und bemühe gleich das englischsprachige Menü.

Auch beim Tanken brauchen wir mehrere Versuche. Tankstellen können Benzin haben – müssen aber nicht. In der ersten Tankstelle ist das Benzin gerade "finished". Nahe der Tankstelle bemerken wir an der Stelle, wo bei uns in Deutschland Gullydeckel sind, riesige, tiefe Löcher. Da wurden Kanalschächte am Bordstein angelegt – aber keiner der Schächte hat einen Deckel. Wer in dieses Loch einfädelt, hat knapp verloren. Egal ob mit Mopped oder zu Fuß.

Wir fahren gen Norden, Richtung Saranda. Die Straße führt mit schönen Aussichten am Meer entlang. In Saranda trennen sich unsere Wege. Walter und Jenny werden weiter entlang der Küste fahren, wir hingegen biegen ins Landesinnere Richtung Gjirokastër ab. Saranda ist ein langgezogener, relativ gesichtsloser Urlaubsort mit vielen, meist mehrstöckigen Gebäuden, darunter viele Hotels. Derzeit, Anfang Juni, ist hier absolut tote Hose. Ein paar einheimische Männer sitzen im Café, sonst sieht man keine Urlauber. Keine flanierenden jungen Leute, keine Familien auf dem Weg zum Strand. Wir haben das Gefühl, die einzigen Fremden zu sein, die hier hindurchfahren.

Wasserstrudel der Quellen vom Syri i Kaltër – Blue Eye.

Wenige Kilometer nach Saranda fällt uns ein Hinweisschild ins Auge: Syri i Kaltër – Blue Eye.Nach kurzer Fahrt werden wir von einem Mann an einem Schlagbaum jäh gestoppt.

Ein Schild weist einen Wegzoll von 50 Lek für ein Motorrad aus. Okay, kriegt er. Warum er darauf besteht, 100 Lek von uns zu erhalten, können wir jedoch mangels Sprachkenntnissen nicht ergründen. Vermutlich zahlt man für ein Motorrad über 1000 Kubik mehr?

Zuerst erblicken wir nach zwei Kilometern auf einem schlechten, aber fahrbaren Feldweg einen Fluss mit türkisblauem Wasser. Schließlich erreichen wir einen unergründlich tiefen Quelltopf, aus dem in der Sekunde etwa 8 m³ Wasser sprudelt und einen fünfzehn Meter breiten Fluss füllt. Der Fluss ist von so klarer Farbe, das man meint, einer Sinnestäuschung aufgesessen zu sein. Auf unseren Fotos ist es schwierig, das Wasser über dem Flussbett überhaupt zu erkennen.

Syri i kaltër – das blaue auge

An der Karstquelle kann man sich bei einem kühlen Getränk oder einem Kaffee auf schattigen Terrassen niederlassen. Eine Theke für die Bewirtung steht schon, eine weitere wird gerade aufgebaut. Man rüstet sich für die kommende Saison. Dieser Ort scheint ein beliebter Ausflugsort für Mütter mit Kindern zu sein. Es toben eine Menge Kinder herum und einige Familien picknicken im angrenzenden Gelände unter schönen alten Bäumen. Ein kleiner Brunnen steht am Ufer und aus dem Wasserhahn plätschert das Wasser in stetigem Strahl.

Frau auf Esel mit hinterher laufendem Mann auf Strasse
Blick hinab ins Drinos-Tal, auch als Dropull-Ebene bezeichnet.
Bus auf enger Strasse in Gjirokaster

Wir bestellen zwei Frappés. Schön, dass es dieses schmackhafte Kaltgetränk nicht nur in Griechenland gibt. Man nehme Nescafépulver und etwas Wasser, schäume den Mix mit Zucker stark auf und fülle das Ganze mit Leitungswasser und Milch auf. Noch einige Eiswürfel rein und das Ergebnis ist ein kühler Drink und ... ein gescheiter Durchmarsch????

Meine Bedenkenteufelchen grummeln im Hinterkopf: Leitungswasser ist BÄH! Eiswürfel sind BÄH! Jedoch die Beruhigungsengel beschwichtigen: ganz sicher verwenden die hier das frische Wasser aus der Quelle! Außerdem haben unsere Mägen bei unseren bisherigen Touren noch jedes Wasser vertragen, egal ob es in Griechenland, der Türkei oder Süditalien war, also hoffen wir auf unsere abgehärteten Verdauungsapparate. In drei Wochen sind wir schlauer. Um es vorwegzunehmen: es ist nichts passiert. Während den drei Tourwochen hatten wir keinerlei Magenprobleme.

Schließlich erreichen wir den Qafa e Muzinës, zu Deutsch Muzina-Pass, nach einer Fahrt entlang des Flusses Bistrica, der ebenso klar wie die Karstquelle ist und auch in diesem unfassbaren Türkisblau leuchtet.

Fährt man die südalbanische Küste entlang, ist die Straße zum Muzina-Pass eine von zwei relevanten Punkten, an denen man entscheiden muss, ob man die Küste verlassen und ins Landesinnere fahren oder an der Küste bleiben will. Es gibt nur drei Straßen, die das Küstengebirge überwinden: der Muzina-Pass, eine Straße bei Borsh (die aber, nach der Straßenklasse zu urteilen, geschottert oder in schlechtem Zustand ist) und der Llogara-Pass, den man unweigerlich fährt, sobald man Vlorë in Richtung Norden verlässt.

Unsere grobe Tourplanung sieht so aus: die ersten zwei Juniwochen geht es durch das Landesinnere: Gjirokastër, Berat, dann der Ohrid-See mit einem Abstecher zu den Prespa-Seen in Mazedonien, schließlich das abgeschiedene Valbonatal in den nordalbanischen Alpen, um die letzte und dritte Tourwoche entlang des Mittelmeeres wieder hinunter Richtung griechische Grenze zu fahren. Die Tour ist in dieser Abfolge geplant, weil vielleicht nach den anstrengenden Bergstrecken ein bisschen Meer ganz guttun könnte. Dass das aus Wettergründen eine weise Entscheidung ist, können wir ja nicht ahnen.

Der Muzina-Pass schlängelt sich in vielen, aber relativ unspektakulären Kurven das Küstengebirge hinauf. Nach der Passhöhe auf 572 Metern bietet sich ein phantastischer Blick in das weit ausladende, mehrere Kilometer breite Drinos-Tal, auch Dropull-Ebene bezeichnet, an deren Flanke sich das Lunxhëria-Gebirge erhebt. Die Ebene ist weitestgehend unbebaut, die Dörfer und Städte drängen sich an die Bergflanken der Gebirge, als hätten sie Angst vor dem kiesigen Flussbett des Drin.

Ankunft in Gjirokastër. Die historische Altstadt zählt seit 2005 zum UNESCO-Weltkulturerbe und ist ein lebendiges Beispiel alter osmanischer Kultur und Städtebaukunst auf dem Balkan. In den engen, steilen Gassen der Altstadt wollen wir versuchen ein Zimmer zu bekommen.

Wir verlassen die SH4 und nehmen den Abzweig Richtung "Qendër", was Zentrum bedeutet. Wir fahren die erste Unterkunft an. Aber die Zimmer sind sowas von dunkel, dass wir abwinken. Man bietet uns noch ein anderes Zimmer an; das ist zwar doppelt so groß und mit einer prachtvollen traditionell-albanischen Ausstattung, aber auch dieses Zimmer ist sehr düster mit nur winzigen Fensterchen. Wir verabschieden uns entschuldigend.

Fahren in gjirokastër: Shake it, baby!

Mein Gott, diese Gassen sind der Hammer! Nicht nur, dass sie eine Steigung von geschätzten 30° aufweisen; sie sind auch noch mit einem bunten, schlüpfrigen Belag gepflastert, der das Fahrwerk (und den Fahrer) vor eine Riesenaufgabe stellt. Die Steine wurden hochkant und quer eingesetzt, nicht immer gerade und mit großen Unebenheiten und Lücken.

Und dann noch mit vollem Gepäck – da tut einem die BMW ganz schön leid! Was ist in diesen Gassen für ein verrückter Verkehr!? Hier tummeln sich Mercedes jeden Alters und schieben sich in Millimeterarbeit aneinander vorbei. Und auch an uns. Hoffentlich kommt der dreißig Jahre alte Mercedes an uns vorbei und wir müssen hier am Berg nicht anhalten! Sogar ein Linienbus mit rund zwanzig Sitzplätzen quält sich regelmäßig diese Gassen hinauf. Der erste Mercedes kam als Geschenk Adolf Hitlers für König Zogu 1938 nach Albanien und ist seitdem das bevorzugte Fahrzeug für den gestandenen Albaner. Eine gute Figur zu machen und einen großen Wagen zu fahren – der absolute Wunschtraum und das Lebensziel eines jeden albanischen Mannes.

Vor dem B&B Kotoni* spricht uns eine nette Albanerin an. Ihre Zimmer sind zwar klein, aber alles ist hell und unsere Gastgeber Vita und Haxhi Kokoni sind sowas von nett, dass uns die Entscheidung quasi abgenommen wird. Als Haxhi dann noch meint, dass wir die BMW in den ebenerdigen Frühstücksraum fahren sollen, wo sie auf dem Teppich zwischen weiß gedeckten Tischen steht, fühlen wir uns vollends wohl. So einen mondänen Parkplatz auf Teppichboden hatten wir noch nie.

Männer vor Lokal beim Xhiro, die abendliche Flanierrunde der Männer
Blick auf das Basarviertel in Gjirokastër.

Wir befinden uns im Stadtteil Palorto oberhalb des Basarviertels, wo lauter winzige Geschäftchen auf Kundschaft warten. Schnell stelle ich bei unserem ersten Rundgang fest: in den Altstadtgassen sind meine Leinenschuhe nicht das passende Schuhwerk. Die Sohlen sind zu dünn und jede Unebenheit, die es hier in Form von fünf Zentimeter hohen Stolpersteinen und schiefen Pflastersteinen gibt, drückt sich schmerzhaft in die Fußsohle.

Vor den Bars sitzen die Männer an winzigen Zweiertischen. Für mehr Personen ist kein Platz auf den Handtuchbreiten Gehsteigen. Auch in den winzigen Restaurants und Bars finden meist nur sechs bis acht Leute Platz. Frauen sieht man in den Gassen auch, aber nicht vor den Bars, sondern mit Einkaufstüten voller Obst, Gemüse oder Fleisch nach Hause strebend.

Gjirokastër (und ganz Albanien) ist seit Jahrhunderten von zwei Religionen geprägt: dem Christentum und dem Islam. Angehörige beider Glaubensgemeinschaften leben seit Jahrhunderten vertraut neben- und miteinander. Schleier und Kopftuch sieht man bei albanischen Frauen nie, Stöckelschuhe, Spaghettitops und Miniröcke sind viel gefragter. Die Moscheen stehen einträchtig neben der katholischen oder orthodoxen Kirche. Aber das war nicht immer so: Während des Kommunismus war Religionsausübung unter Strafe verboten. Wer betete und sich dabei erwischen ließ, hatte in albanischen Gefängnissen nichts mehr zu lachen. Der Sturz des Regimes brachte die Wende: Mittlerweile sind 60 % der Bevölkerung Muslime, 10 % katholisch und der Rest ist orthodox oder gehört einer anderen Konfession an.

Vita, unsere Gastgeberin, ist Christin, während ihr Mann Muslime ist. Ihr Mann verlässt das Haus und strebt zur nahen Moschee, wenn zum Gebet gerufen wird. Vita meint, dass es nur Vorteile brächte, wenn die Ehepartner verschiedenen Religionen angehörten. Zum Beispiel hätten sie dadurch die doppelte Anzahl Feiertage. Stolz berichtet sie, dass sie letztes Weihnachten zum ersten Mal einen Adventskranz gebastelt hätte, Internet sei Dank.

Eckhaus mit Fahnen im Basarviertel von Gjirokaster.
Alte, renovierbedürftige Häuser in der Altstadt von Gjirokaster.

Die Abwanderung der jungen Leute auf dem Land ist riesig. So auch in Gjirokastër. Industriebetriebe gibt es seit dem Zusammenbruch des Kommunismus nur noch vereinzelt und der Broterwerb erstreckt sich meist auf die Landwirtschaft. Aber seit die Stadt von der UNESCO unterstützt wird, ist der Tourismus als möglicher Wirtschaftsfaktor im Kommen. Die Häuser ähneln kleinen Trutzburgen: Natursteinhäuser, mit Steinplatten aus dem Gebirge gedeckt, in dessen Inneren es im Sommer kühl bleibt und im Winter nicht zu kalt wird.

Wir schauen uns im Basarviertel um. Die großen Wohnturmhäuser zeugen von einem gewissen Reichtum der Erbauer und ergeben ein stimmungsvolles Bild. Leider stehen zwischen schön renovierten Gebäuden aber auch viele verfallene Häuser. Denn es gibt ein großes Problem, und das gilt für ganz Albanien: die Häuser sind oft im Besitz von Familienclans, dessen Mitglieder auswanderten oder nicht vollständig ermittelt werden können. Auch existieren in Albanien oft gar keine schriftlichen Zeugnisse der Besitzverhältnisse oder es gibt welche und die lagern unerreichbar oder unauffindbar in Istanbul – wie sollen da Häuser rechtssicher ver- oder gekauft werden?

Die UNESCO hat so ihre Probleme damit; sie würden gern mehr Einfluss nehmen, vielleicht auch Zuschüsse geben, aber mangels Ansprechpartnern ist dies oft nicht möglich. Vita erzählt von dem wundervollen, riesigen Wohnturm, der an ihr Haus grenzt: Dieses Gebäude hat allein sechzehn Besitzer, wodurch sinnvolle Renovierungsmaßnahmen eines denkmalgeschützten Gebäudes kaum möglich sind. Abgesehen davon kann es sich auch kein Albaner mit normalem Einkommen leisten.

Alter Steinmetz bei der Arbeit in Gjirokaster.
Blick auf Fensterfassade in Gjirokaster.

Durch Zufall betreten wir ein Areal mit der kleinen Kirche Shën Sotira. Der Kirchturm ist mit drei Glocken bestückt, von denen drei Seile außen am Turm entlang bis zu einem Fenstergitter führen, wo die Seile lose verknotet sind. Wir sind versucht, ein Seil zu lösen und daran zu ziehen. In den Basargassen kann man traditionelle Handwerker bei ihrer Arbeit beobachten. Ein Steinmetz sitzt auf einem niedrigen Hockerchen und bearbeitet in winzigen Schlägen mit Hammer und Meißel das Relief einer Madonna.

Unser nächstes Ziel ist das Zekati-Haus. Dies ist ein altes, sehr großes Wehrturmhaus am obersten Rand des Stadtviertels Palorto. Puuh, die Stadt ist Fitness-fördernd. Berg rauf, Berg runter. Ohne Ende. Der bekannteste Schriftsteller Albaniens, Ismail Kadare wurde in Gjirokastër geboren und beschreibt die Geburtsstadt in seinem Buch „Chronik aus Stein“ als „die vielleicht steilste Stadt auf der ganzen Welt“. Wir können das bestätigen, denn unsere Erkundungstouren sind reinste Bergtouren.

Wir bewegen uns vorsichtig im Gelände des Hauses, in der Hoffnung, dass uns jemand bemerkt. Denn die Eigentümer und ehemaligen Bewohner des Hauses wohnen im neueren, benachbarten Gebäude und können uns ins Haus lassen. Über Steintreppen, die mit Teppichläufern belegt sind, geht's nach oben. Im Erdgeschoss gibt es nur sehr spärliche Fensteröffnungen, eigentlich nur Schießscharten, was dem Zweck eines Wehrturmes entspricht. Denn der Turm sollte den Bewohner vor der Blutrache des Kanuns schützen.

Der Kanun ist eine ursprünglich nur mündlich überlieferte Gesetzessammlung, die im letzten Jahrhundert von einem Franziskanerpater durch Gespräche mit Stammesältesten zusammengetragen und schriftlich fixiert wurde. Der für Mitteleuropäer unfassbare Kanun legt einerseits fest, dass dem Gast die höchste Ehre im Haus gebührt, andererseits, dass das Blut eines getöteten Familienmitglieds mit dem Blut aus der Familie des Mörders gerächt werden muss. Die Wahrung der Ehre der Familienmitglieder und die Einhaltung des Kanuns waren und sind die zentralen Richtlinien des Zusammenlebens.

Eine Endlosgewaltspirale. Diese archaische Tradition rettete sich bis in heutige Zeit, ja, flammte nach dem Zusammenbruch des Kommunismus wieder richtig auf, vor allem in den abgeschiedenen Regionen Nordalbaniens. Der Reisende wird allerdings kaum mit dem Kanun konfrontiert werden, außer in Bezug auf das Gastrecht und wenn die dicken Mauern im Erdgeschoss und die Schießscharten in Wehrtürmen an die Männer erinnern, die sich wegen der Blutrache jahre- und jahrzehntelang darin verschanzen mussten oder heute noch müssen.

Im Innenraum im Zekati-Haus mit Kamin.
Zimmer im Zekati-Haus mit rotem Teppich und Holzvertäfelungen.

In einem Artikel zu einem Fernseh­bei­trag des Schweizer Fern­sehens hieß es kürzlich: "Es ist nicht ganz ungefährlich, nach Nordalbanien zu reisen. Vor allem nicht als allein­reisende Frau."

Wieso gerade Nordalbanien? Weil es so bevölkerungsarm ist? Oder wegen des Kanuns? Weibliche Alleinreisende setzen sich generell ein klein wenig mehr einer Gefahr aus – aber die ist doch in Südspanien genau so hoch wie in Nordalbanien! Der Kanun dürfte uns Reisende in keiner Weise berühren und wenn, dann nur positiv: Nach dem Kanun gehört das Haus des Albaners „Gott und dem Gast“. In abgelegenen Gegenden ist das eine sinnvolle Vereinbarung. Mal sehen, ob wir das Gastrecht in Anspruch nehmen müssen ...

Aber zurück zum Wehrturm. In den unteren Geschossen ist die Ausstattung eher spärlich. Da mal ein mit einem Flokati oder einer Decke überworfenes Sitzkitzen, dort einige Tücher mit Lochspitzen vor den Fensteröffnungen, sonst gibt es nicht viel zu sehen. Das letzte Geschoss hat große Fenster aus venezianischem Buntglas, prachtvolle Wandfresken und eine geschnitzte Decke. Der Besitzer war ein Mann mit Wohlstand, liest man an dieser Ausstattung ab.

Altes, schwarz weiß Luftbild auf das Basarviertel von Gjirokastra

Der Hunger treibt uns zurück. Im Basarviertel werden wir von einem älteren Herrn angesprochen. Die Küche in dem Lokal, vor dem wir gerade stehen, sei gut und typisch albanisch, meint er. Wir lassen uns auf seine Empfehlung ein und er nimmt am Nachbartisch Platz.

Er erzählt, dass er pensionierter Berufs­schullehrer sei und jetzt ein Zubrot als Fremdenführer verdiene. Okay, war uns klar. Er referiert zwanzig Minuten lang atemlos über die albanische Wirtschaft und die kommende Wahlschlacht. Währenddessen essen wir in aller Ruhe. Er hat eine eigenartige Art und spricht, als würde er ohne Emotionen ein auswendig gelerntes Gedicht herunterleiern. Und er lacht nie. Er lächelt nur ein einziges Mal – kurz bevor er sich verabschiedet und ich aus Freundlichkeit seine Telefonnummer notiert habe.

Uhrenturm der Burg von Gjirokastra
Provisorischer Grill aus Backsteinen mit Grillrost und Stuhl.
Blick in provisorische Wirtschaft auf der Burg von Girkokaster.
Offener Stromverteilerkasten ohne Inhalt mit isolierten, offenen Kabelenden.

Danach stiefeln wir zur Burg hinauf – im wahrsten Sinne, weil unser "ziviles" Schuhwerk für die steilen, bucklig gepflasterten Gassen von Gjirokastër einfach nichts taugt, hingegen jedoch die Motorradstiefel für die albanischen Pflaster wie geschaffen sind. Die Festung Gjirokastër liegt auf einem großen Bergrücken über der Stadt und nimmt ein großes Gelände ein. In einer zweistöckigen Hauptgalerie, nur sehr düster mit einigen durch Solarstrom versorgten Laternen beleuchtet, stehen einige Kanonen, Mörser und andere Waffen aus dem Ersten Weltkrieg.

Viele der restlichen Gebäude auf dem Gelände sind verfallen. Mit einer Taschenlampe kann man sie erkunden – entdeckt aber meist nur Müll und Abfall. Am Ende erhebt sich ein Uhrturm, dessen Uhren jedoch seit einer Beschädigung im Krieg stehen. Unterhalb des Turmes ist ein altes, ziemlich demoliertes, amerikanisches Flugzeug vom Typ Lockheed ausgestellt, das wegen technischer Probleme 1957 notlanden musste. Drei Jahre später wurde es als abgeschossenes Spionageflugzeug der bösen Amerikaner präsentiert. So werden kommunistische Legenden geschaffen.

Vor einem nach einer Seite offenem Gewölbe finden zaghafte gastronomische Erstversuche statt: einige Tische und Stühle stehen im Freien und laden zum Sitzen ein, auf einem Schrank im Gewölbe stehen einige Getränkedosen, außerdem warten ein Milchschäumer und ein Wasserkocher auf den Einsatz. Ein paar Ziegelsteine mit einem rostigen Gestell darüber könnten als provisorische Grillstation zum Einsatz kommen. Man könnte Würstchen grillen – wenn die Kohle brennen würde und hungrige Besucher da wären. Allerdings fragen wir uns, wo denn das benötigte Geschirr abgespült würde. Ein Wasseranschluss ist nicht zu entdecken. An anderer Stelle im Gelände belustigen wir uns noch an einem Stromkasten, aus dem notdürftig isolierte Kabelenden ragen.

Bei Sonnenuntergang besuchen wir wieder das Basarviertel, das um diese Zeit sehr belebt ist. Es ist die Zeit des Xhiro, des abendlichen Flanierens. Es ist die Zeit, wo sich die Albaner in den Straßen treffen, in den Bars etwas trinken, sitzen, reden, andere Flaneure gucken. Viele Männer, aber auch Frauen. Die Männer hocken vor den winzigen Lokalen, Bars und Cafés, vor denen meist nur Platz für zwei bis drei Stühle ist, während die Frauen an der Ecke einen Schwatz mit der Nachbarin halten. Vor allem dort, wo sich junges Volk trifft, ist dann Highlife. Hier im Basarviertel geht es schon beschaulicher zu – junge Gesichter sieht man kaum. Wie üblich kurven viele Mercedes durch die Gassen. Dass die Autos diese Straßen aushalten, ist echt ein Wunder. Stoßdämpfer und Kupplungen sind in Albanien sicher sehr gefragte Güter.

Nachts wundern wir uns über den klaren Vogelgesang vor unseren Fenstern. Gut, dass der Gesang so klingt, als wäre der Vogel nur drei Meter entfernt, liegt unter anderem daran, dass die Holzfenster nur einfach verglast sind und dass man sie eigentlich nur mit einem Teil ähnlich einem schwenkbaren, krummen Nagel zuhält. Der Rahmen des Eckfensters ist außen komplett mit Klebeband verklebt – ob er sonst nicht in der Wand hält? Bei den jetzigen Temperaturen ist das jedoch egal. Nur der Vogel ... der sitzt irgendwie auf unserem Nachtschränkchen. Jede Nacht.

Wir fragen Vita nach dem Sänger. Er klingt so klar wie eine große Amsel, nur anders. Sie stellt ihn uns mit Bill Bill vor. Die Netzrecherche ergibt: Die Schlaflieder singt ein Bülbül. Das sind mittelgroße Singvögel, deren Verbreitungsgebiet vor allem Asien und Afrika ist, die sich aber auch hier heimisch fühlen. Gesehen haben wir ihn leider nicht, aber er soll ein sehr auffällig gefärbtes Gefieder haben. Mit seinem großen Schopf und einer andersfarbigen Kehle in Gelb und Schwarz.

Südalbanien |
Bektashi-Tekke Melan und Derwisch Myrtesaj
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