Motorradtouren Albanien Südalbanien Bektashi-Tekke Melan

Der Derwisch heißt Myrtesaj

Motorrad im Frühstücksraum mit Gästen in Girkokaster.

Am Morgen fährt Jochen als Erstes die BMW aus dem Frühstücksraum unserer Unterkunft B&B Kotoni*, damit alle Gäste Platz haben und nicht mit Benzingeruch frühstücken müssen. Das Frühstück ist mächtig: pro Person zwei Eier, viel Weißbrot, Butter und Marmelade, Schafskäse, eine ganze Kanne türkischen Kaffee und als Wegzehrung für unterwegs fünf Stücke Byrek.

Die heutige Tagestour führt uns ins Umland. Unterwegs fällt uns eine Puppe auf, die an einem Haus festgebunden ist und einige Kilometer weiter hängt ein Arbeiter außen an einem Rohbau. Es sieht ein klein wenig gruslig aus, wenn eine Puppe eine Schlinge um den Hals hat und an einem Fenstergitter hängt. Natürlich ist auch der hängende Arbeiter nur ein ausgestopfter Arbeitsanzug mit Helm, aber wir vermuten, dass eine besondere Tradition dahintersteckt. Den Sinn der Tradition erschließt uns noch nicht, doch wir haben eine Ahnung ...

Dorfplatz mit Stühlen und großer, beeindruckender Platane in Libohove.

Eine angeblich dreihundert Jahre alte Platane steht in Libohovë am Rande des Dorfplatzes. Dieser Ort ist nicht weit entfernt von Gjirokastër und auf einer kleinen, kurvigen Straße zu erreichen. Vorher wollen wir eigentlich Fotos der alten fünf bogigen Steinbrücke aus dem 19. Jahrhundert machen, die am Rand von Gjirokastër den Drinos überspannt. Aber das Umfeld der Brücke ist dermaßen vermüllt, dass sie uns kein Foto wert ist. Schade. Der Müll ist eines der großen, albanischen Probleme.

Unter der Platane und den meterweit hinausragenden Ästen kann man sich im Restaurant stärken. Der Wirt behauptet, dass die Platane nicht dreihundert, sondern sechshundert Jahre alt sei. Egal wie alt sie ist, sie ist beeindruckend: Wenn man unter diesem mächtigen Baum steht, kommt man sich wie ein Zwerg vor und die Stühle auf unserem Foto wirken wie Kinderstühle oder nachträglich hinein retuschiert. Am Dorfrrapi – so nennt man den Baum in der Mitte jedes albanischen Dorfes (sozusagen eine Dorflinde) – findet man immer eine Bar oder ein Restaurant, hier versammeln sich die Männer des Dorfes. Wer Hilfe, Hinweise oder ein Zimmer sucht: am Dorfrrapi wird einem geholfen, der Dorfrrapi ist der Mittelpunkt des Dorfes.

Nächstes Ziel: die Bektashi-Tekke Melan. Eine Tekke (gesprochen Tetje, so bisschen wie Tietjen) ist das religiöse Zentrum und der Rückzugsort eines Derwisch-Ordens. In Albanien gehören rund zwei Prozent der Gläubigen dem Bektashi-Orden an, der nach einer sehr wechselvollen Geschichte in heutiger Zeit rund 80 Tekken im Land unterhält.

Kurze Schotterpassage auf dem Weg zur Tekke Melan.
Außenansicht auf die Bektashi Tekke Melan

Aber erst einmal müssen wir diese Tekke finden. Nach der Mineral­wasser­fabrik von Glina soll ein Weg nach Grapsh und dann vier Kilometer lang bis zum Kloster gehen – sagt unser Reiseführer. Glina liegt jedoch zwei Kilometer links der Straße (SH4), Grapsh rechts.

Wir glauben also unserem Instinkt und nehmen an, dass das große weiße Gebäude, dass wir am Fuß der Bergkette sehen, die Mineral­wasser­fabrik sein könnte. Ein Firmenschild können wir nicht entdecken, aber nachdem hinter der Halle palettenweise Flaschen gestapelt sind und ein Weg sich den Hang hinaufzieht ... Bingo! Der betonierte Weg ist zweieinhalb Meter breit, sehr steil und kurvig. Schließlich wird er zu einem normalen Feldweg, den man ganz gut befahren kann.

Vor dem Horizont erstreckt sich ein langgezogener Bergrücken, auf dem eine lange Zypressen-Allee ein stilvolles Entree für ein graues Steingebäude bildet. Das könnte die Tekke sein. Die letzten paar hundert Meter geht es noch mal in eine Senke hinab, hier ist der Weg sehr ausgewaschen und steinig. Mit einem Auto würde es hier ganz schön spannend! Mir wird es wie immer bei haarigen Passagen etwas wärmer, aber Jochen steuert die Q bravourös über den grobschotterigen Untergrund.

Nachdem wir die Allee passiert haben, erreichen wir ein Gebäude aus Natursteinen, die eine runde Kuppel ziert. Eine kleine Gartenanlage schließt sich im ummauerten Gelände an. Mit uns erreicht eine achtköpfige, französische Wandergruppe das Areal und wir unterhalten uns mit dem Wanderführer, der unter anderem Deutsch spricht. Sie haben eine Verabredung mit dem Derwisch und wir dürfen uns anschließen.

Derwisch Myrtesaj sitzend im Gespräch mit Touristen.

Der in ein blütenweißes Gewand gekleidete Derwisch heißt uns herzlich willkommen und führt uns ein langgestrecktes Zimmer, in dem auf dem Boden dicke Flokatis liegen. Weitere Flokatis bedecken die Sitzpolster und an den Wänden hängen große Gemälde, die die Urväter des Ordens zeigen.

Der Führer der Gruppe hat ihm vorher seine Gastgeschenke überreicht: eine Flasche Alkohol und Zigaretten, denn der Bektashi-Orden ist wesentlich liberaler als man den Islam kennt. Der Derwisch raucht und trinkt Raki, den starken, selbst gebrannten Schnaps, der selten unter 50 % Alkoholgehalt und nichts mit dem türkischen Anisschnaps gemein hat. Der albanische Raki ist ein Traubenschnaps ähnlich dem italienischen Grappa.

Bilder der Urväter des Bektashi Ordens an der Wand hängend.

Unser französischer Führer ist so nett und übersetzt die Ausführungen des Derwischs nicht nur für seine Gruppe ins Französische, sondern für uns auch ins Deutsche. Der 29-jährige Derwisch Myrtesaj lebt seit zehn Jahren in diesem Gebäude. Er darf das Klostergelände nicht verlassen und wird von der Gemeinschaft versorgt. Seine Familie kann ihn jedoch jederzeit besuchen.

Im Kommunismus unter Diktator Enver Hoxha wurden alle religiösen Orden durch die Proklamation des Atheismus verboten und alle Bektashi-Führer und -Anhänger brutal verfolgt, ermordet und in Arbeitslager gesteckt. Mit Hilfe von in die USA geflohenen Bektashi-Führern wurde der Orden nach dem Zusammenbruch des Kommunismus ab 1990 kontinuierlich wieder aufgebaut und die Gebäude ihrer Bestimmung zugeführt.

Derwisch Myrtesaj bietet uns türkischen Kaffee und Raki an.

Derwisch Myrtesaj bietet uns türkischen Kaffee und Raki an. Alle Handreichungen werden von einem jungen Mann ausgeführt. Jedes Mal, wenn der weltlich gekleidete Gehilfe – wir schätzen ihn auf maximal zwanzig Jahre – etwas serviert, verlässt er den Raum rückwärtsgehend und erst in der Tür wendet er sich um.

Die Ausführungen des Derwischs sind interessant. Nach fünfundvierzig Minuten schauen wir jedoch sorgenvoll auf die schwarze Wand, die sich im Fenster gegenüber am Himmel auftürmt und sind erleichtert, als Myrtesaj uns verabschiedet. Nichts wie weg, vielleicht kommen wir ja noch trocken heim. Vor allem die etwas kritischen Abschnitte des ausgewaschenen geschotterten Fahrwegs sind bei Regen vermutlich keine Freude.

Ganz trocken haben wir es dann leider nicht geschafft. Unser Herbergsvater Haxhi sieht uns die steilen Basargassen heraufkommen, öffnet die beiden Flügeltüren des Frühstückraums und lotst uns in voller Fahrt zwischen die weiß gedeckten Tische. Das nennen wir Luxus!

Vita und Hoxhi Kokoni vom B und B Kokoni

Immer wenn wir am Nachmittag von einer Tour wiederkommen, wuselt Vita durchs Haus und macht uns einen Kaffee, serviert uns ein Schüsselchen Eis oder bereitet uns eine ortstypische Süßspeise zu, eine Art Grießbrei. Sollten wir je wieder nach Gjirokastër kommen – wir wüssten, wo wir übernachten. Die Zimmer sind klein und sauber und nettere Gastgeber findet man nirgends.

Zum ersten Mal machen wir bei Vita, der Hausherrin der Unterkunft B&B Kotoni*, Bekanntschaft mit Caj i Malit. Der als griechischer Bergtee oder griechisches Eisenkraut bekannte Tee ist der in Albanien gebräuchlichste Haustee und soll gegen eine Vielzahl von Krankheiten helfen. Der Tee ist die erste Wahl bei Erkältungskrankheiten, aber auch bei Herzkrankheiten, Diabetes und Osteoporose. In den Bergen gehört zu jedem Frühstück eine Tasse Bergtee und die betagten Einwohner führen ihr hohes Alter auf dieses spezielle Kraut zurück.

Südalbanien | Kelcyrë-Schlucht
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