Motorradtouren Baltikum Tour 2 | Litauen & Lettland & Estland Lettland Sigulda

Sigulda | Kurven in der lettischen Schweiz

Wir starten nach einem weiteren Stadtrundgang mit Ainars erst mittags in Liepāja / Lettland. Es ist zwölf Uhr geworden und höchste Zeit, die vor dem Hotel Liva* stehende Kuh zu satteln. Unser Ziel für heute ist die Ecke nordwestlich von Rīga, das wir auf jeden Fall umfahren wollen, da wir die Stadt schon letztes Jahr besuchten. Heute heißt es Strecke machen, denn in dem verbliebenen halben Tag wollen wir es bis in die Ecke von Cēsis und Sigulda schaffen, das sind rund dreihundert Kilometer. Darum ist die A9, die bis in den Großraum Rīga führt, unsere Wahl.

A9 bedeutet nicht wie in Deutschland Autobahn, sondern Staatliche Hauptstraße (Valsts galvenie Autoceļi), ist jedoch gut ausgebaut. Mal als ganz normale Landstraße, mal vierspurig wie eine richtige Autobahn. Dass es dann doch keine solche ist, merkt man allerdings an den Verkehrsteilnehmern, von langsamen landwirtschaftlichen Fahrzeugen bis hin zu Fahrradfahrern ist mit allem zu rechnen. Links und rechts rauschen Wiesen und Felder an uns vorbei. Ausgedehnte Birkenwälder, den Inbegriff russischer Wälder, sieht man nicht, sondern ausschließlich größere Baumgruppen.

Aussenansicht des Hotels Pils

Nach dreihundert Kilometern hatten wir ganz vergessen, wie das sich anfühlt: Kurven. Aber hier gibt es sie plötzlich wieder. Sanft legen wir uns in die Straßenwindungen, die sich nicht – wie in den meisten baltischen Gegenden – durch einen Kurvenradius von tausend Metern auszeichnen.

Wir erreichen Sigulda und es braucht nur einen Blick in die Landschaft, um zu beschließen: hier bleiben wir wieder zwei Nächte. Die Gegend wird Lettische Schweiz oder auch Livländische Schweiz genannt. Sie besteht aus einer hügeligen Landschaft, die im Winter sogar zum Skifahren taugt. Für lettische Verhältnisse sind wir also im Bergland. Wir quartieren uns im kleinen Hotel Pils* ein, das wie ein winziges Schlösschen mit Turm aussieht. Pils? Nix Bier, es bedeutet übersetzt einfach „Schloss“. Im Turm beziehen wir ein achteckiges Zimmer mit vielen Fenstern und einer fetten, schwarzen Spinne in der Ecke des modernen Badezimmers. Die am nächsten Morgen weg ist und ich gern gewusst hätte, wohin ...

Einmal fliegen bitte!
Motorradfahrer vor Bodyflying-Anlage Aerodium

Am nächsten Morgen schicken wir uns an, die Gegend zu erkunden. Während der Anfahrt gestern entdeckten wir kurz vor Sigulda eine eigenartige, bunte Anlage im Wald neben der Straße. Sie sah aus wie ein großes Luftkissen, über dem ein Mensch schwebte. Es ging viel zu schnell und schon waren wir vorbei. Deshalb machen wir uns nun noch einmal auf den Weg. Eine Ahnung haben wir schon – und die bestätigt sich auch. Es handelt sich um eine „Bodyflying“-Anlage, Aerodium heißt sie, und das Besondere an ihr: sie befindet sich im Freien. Fünfzehn Meter Durchmesser misst der vier Meter hohe Zylinder, an den sich ein Netz anschließt. Über der Mitte des Zylinders ist ein Netz gespannt, unter dem eine extrem kräftige Turbine arbeitet. Sie macht einen Höllenlärm. Jeder, der sich auf den Luftstrom des Gebläses wagt, liegt wie im freien Fall in der Luft.

Person liegt schwebend in der Luft der Bodyflying-Anlage Aerodium

Als wir ankommen, schwebt ein junger Mann in blauem Overall und weißem Vollhelm meterhoch über dem „Aerodium“. Er bewegt seine Gliedmaßen ein klein wenig und schon ändert sich die Lage im Luftstrom. Er sinkt, wenn er ein Bein nach unten fallen lässt, wird wieder nach oben gehoben, sobald er mit den Körperteilen einen Luftwiderstand erzeugt, absolviert Salti in verschiedene Richtungen.

Person liegt schwebend in der Luft der Bodyflying-Anlage Aerodium

Das will ich auch. Es sieht so leicht aus! Ist es jedoch keineswegs, wie ich kurze Zeit später feststellen muss. Der freie Fall ist schon was ganz Spezielles, beim Tandemfallschirmsprung vor drei Jahren konnte ich das erfahren. Aber da hat man einen Tandemmaster hinter sich, der sich bestens auskennt und einem die entsprechende Sicherheit und vor allem Stabilität gibt. Hier aber ist man ganz allein Herr über seine Bewegungen. Unterschenkel anwinkeln und man sinkt. Unterschenkel strecken und auf geht’s. So ganz ohne helfende Hände des Trainers geht es nicht, wer weiß, wo ich bei manchen noch ungelenken Bewegungen hingeblasen worden wäre. Das Ganze erfordert viel Körperbeherrschung und ist ziemlich anstrengend, bei mir sind es vor allem meine vorgeschädigten Schultergelenke, die recht schnell nach Begnadigung schreien. Nach wenigen Minuten bin ich glücklich über die Erfahrung, aber auch froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren. Einen Tag später werde ich Muskelkater in den Schultern haben.

Sigulda – sagenhaft im wahrsten Sinne
Dekoratives Fenster an einem Haus in Sigulda

Die Stadt Sigulda ist seit einem Jahrhundert das Wochenendvergnügen der Rīgaer. Wer ins Grüne will, fährt ins fünfzig Kilometer entfernte Städtchen, wo sich viele Hauptstädter ein Haus gekauft oder gebaut haben. Der Fluß Gauja hat sich ein tiefes Tal gegraben und teilt den Ort dadurch in zwei Hälften. Schon zu Sowjetzeiten war Sigulda das touristische Vorzeigeobjekt und ist es heute um so mehr. Die Stadt selbst ist jetzt nicht so der Bringer, einen romantischen, alten Stadtkern sucht man vergebens, aber für einen Tagesaufenthalt reicht sie wegen der schönen Landschaft ringsherum allemal.

In der Ferne taucht die Burg Turaida aus den Baumwipfeln auf.

Auf der anderen Seite des Tales, hoch über der Gauja, thront die weithin sichtbare, rot leuchtende Turaida-Burg, auch Bischofsburg Treyden genannt. Um da hinüber zu kommen, braucht‘s eine Brücke, die wir kurz nach Sigulda finden. Die Alternative wäre die Seilbahn. Echt, hier gibt es eine Seilbahn! Aber jetzt geht es erst mal per Motorrad weiter. Wir landen auf einem großen Parkplatz, der erahnen lässt, welche Bedeutung der achthundert Jahre alten Burg beigemessen wird. Die unvermeidlichen Souvenirstände fehlen natürlich auch nicht. Zwar brannte das Burggemäuer im achtzehnten Jahrhundert ab und was man heute sieht und begeht, dürfte mit den historischen Mauern nicht mehr so arg viel zu tun haben, das schmälert jedoch nicht den Eindruck, denes hinterlässt. Jahrzehntelang renovierte man die Burggebäude, was fast bis heute andauerte, nun aber gilt die Restauration als abgeschlossen.

Blick vom Turm auf das Burginnere der Turaida-Burg

Diese gern verspotteten Renovierungsarbeiten in einem Jahrzehnte währenden Schneckentempo waren fast berühmter als die Sage um die Rose von Turaida, wie man das Mädchen Maja nennt, das im Jahr 1620 ganz in der Nähe unter mysteriösen Umständen um‘s Leben kam.

Die Sage handelt von den zwei jungen Liebenden Maja und Viktor, die sich wiederholt in einer Höhle trafen. Jedoch buhlte ein junger polnischer Offizier ebenso um die Gunst der neunzehnjährigen Dame und lauerte ihr am gewöhnlichen Treffpunkt auf. Um der Vergewaltigung zu entgehen, präsentierte sie ihm ein Tuch, das ihn zukünftig vor Schwertverletzungen schützen würde. Sie wollte ihm die Wirkungsweise demonstrieren, legte sich das Tuch um den Hals und er schlug zu. Als er sah, was er getan hatte, erhängte er sich im nahen Wald. Ihr Geliebter Viktor wurde des Mordes verdächtigt und kam nur durch die entlastende Aussage eines anderen Offiziers mit dem Leben davon. So die Sage. Aber ob je ans Tageslicht kommt, was wirklich geschah? Vielleicht. Denn seit im neunzehnten Jahrhundert im Rīgaer Schloss Dokumente über einen Mordprozess gefunden wurden, scheint sicher, dass wahre Begebenheiten der Sage zu Grunde liegen müssen.

Mittelalterlich gekleidetes Mädchen steht an Türeingang

Zum Glück haben wir Jacken und Helme in die leeren Motorradkoffer gepackt. Es wird uns trotzdem leicht warm in den Motorradhosen, denn der Weg führt bergauf. Die hohen Bäume rechts und links des Weges spenden willkommenen Schatten. Oben erklimmen wir den Burgturm, von dem aus man einen atemberaubenden Blick auf die Gauja und deren grünes Tal genießt. Die Bediensteten der Burg sind in mittelalterliche Gewänder gekleidet, nur das gezückte Handy zerstört die schöne Illusion.

Seilbahn & Bobbahn, wie in den alpen
Gondel einer Seilbahn in Sigulda fährt in die Bergstation ein.

Anschließend erkunden wir noch ein wenig mit dem Motorrad die Umgegend, entdecken aber wenig Spektakuläres. Das übliche eben: gerade Straßen. Doch dies schmälert keinesfalls die Begeisterung für die baltischen Staaten, schließlich wussten wir das vorher. Durch die Gauja kann man die Richtung auch nicht so einfach wechseln, sondern muss bis zur nächsten Brücke fahren.

Die ersten Schotterkilometer. Unseren Weg kennzeichnet eine gelbe Staubfahne. Die Schotterpiste ist breit und anfangs feinpüriert – das ist der erste Ausdruck, der mir angesichts des gelben Belags in den Kopf kommt. Später werden die Steine größer, die Staubwolke hinter uns dicker und meine Bedenken angesichts der Seitwärtsbewegungen des Hinterrads auch. Mit siebzig bis achtzig Stundenilometern gleiten wir dahin. Auf den gröberen Schotterkieseln zwar leicht schlingernd, aber mein bester aller Fahrer beruhigt mich: alles im grünen Bereich. Okay, ich glaube es ihm mal. Trotzdem bin ich ein wenig froh, als ein Schild anzeigt: ab hier wieder Teer. Cool, dafür gibt es sogar ein Schild!

Bei der Fahrt nach Sigulda entdecken wir in der Nähe der Landstraße eine Bobbahn. Und ebenso einen Sessellift, eine bequeme Möglichkeit, hoch auf die Bobbahn zu gelangen. Wie wir erst später lesen, kann man hier im Sommer mit kleinen Seifenkisten nach unten rasen, während die Bahn im Winter seinem eigentlichen Zweck zugeführt wird und darauf Wintersportler trainieren. Wer in der kalten Jahreszeit aufmerksam die Sportnachrichten verfolgt, wird diese Bahn dort auch gelegentlich aus Austragungsort für Wettbewerbe hören.

Ein ganzes Stück weiter schwebt eine Seilbahn mit gelben Kabinen hinüber auf die andere Seite der Gauja. Eine Seilbahn in Lettland – wer hätte das vermutet? Mit zwölf Euro für eine kurze Hin- und Rückfahrt bezahlt man den etwas anderen Blick auf das grüne Tal der Gauja. Im gegenüberliegenden Stadtteil Krimulda sind die spärlichen Reste einer Ordensburg anzuschauen sowie das gut erhaltene Schloss. Im „Kafejnīca Milly“ genehmigen wir uns zwei Cappuccini. Die Anderthalb-Liter-Flasche Mineralwasser kostet hier nur wenig mehr als im Supermarkt. Drei Euro für zwei Cappuccini und eine große Flasche Wasser, da kann man sich nicht beschweren.

Figur eines Römers steht an einem Restaurant-Eingang

Am Abend finden wir uns im „Kaku Maja“ ein, Katzenhaus heißt das übersetzt. Wir müssen uns erst noch daran gewöhnen, dass wir in vielen Gaststätten die Bestellung an der Theke selbst aufgegeben müssen. Kafejnīca heißen die Lokale mit der quasi halben Selbstbedienung. Bestellt wird an der Theke, dort wird auch gleich bezahlt. Meist bringt die Bedienung dann die Speisen und Getränke an den Tisch. Das Verwirrende ist, dass wir auf die Bezeichnung Kafejnīca achten. Wenn jedoch auf den Schildern „Restorans“ steht, deuten wir das dann als Restaurant mit Bedienung. So auch hier. „Bistro, Cafè und Restoran“ steht am Haus. Wir setzen uns auf die Terrasse (es sind immer noch 20 °C – grandios, dieses Wetter!) und warten. Irgendwann kommt es uns spanisch vor, dass die Bedienung zweimal die Nachbartische abräumt, uns jedoch keines Blickes würdigt. Aaaah, drinnen im Gastraum wartet eine große Warmhaltetheke mit einer Vielzahl von Speisen auf uns. Reingefallen. Hier wird nicht bedient. Das nächste Mal werfen wir gleich einen Blick ins Innere.

Schlussendlich stiegen wir auch bis zum Ende unserer Reise nicht ganz dahinter, woran man erkennt, auf welche Art der Bedienung man sich einstellen muss. Im Endeffekt finden wir diese Methode jedoch gar nicht so schlecht: Man nimmt sich eine Speisekarte, wählt schnell aus, was man essen möchte, bekommt ein Getränk eingeschenkt und schon sitzt man. Kein Kellner, auf dessen Aufmerksamkeit, Wohlwollen und Schnelligkeit man angewiesen ist. Es hat alles seine Vor- und Nachteile.

Peipussee | Estland
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