Motorradtouren Baltikum Tour 2 | Litauen & Lettland & Estland Lettland Liepāja

Ainars zeigt uns Liepāja

Motorrad steht innerhalb eines Backsteingebäudes ohne Dach - der sogenannten Manege in Liepaja

Abfahrt in Klaipėda / Litauen. Wir bepacken am Morgen die „Big Turtle“ und tuckern los. Anfangs wieder über Straßen mit diesen riesigen Kindskopfkieseln. Echt eine Herausforderung, egal ob man zu Fuß geht oder fährt. Bei den Ampelschaltungen in Litauen braucht man ein wenig Gelassenheit und darf keinesfalls dann losfahren, wenn die Ampel in Deutschland vom Gefühl her auf grün umschalten würde.

Von Rot auf Gelb ist alles normal, bis zum Grün dauert es jedoch ein wenig länger als in Deutschland. Irgendwie will man immer schon los, aber dann pfeift einen die gelbe Ampel immer noch zurück. Beim Wechsel von Grün auf Gelb blinkt zuerst das Grün, das entspricht unserem deutschen Gelb. Beim litauischen Gelb noch zu fahren sollte man tunlichst unterlassen, das könnte teuer werden. Ich schätze mal, dass beim Grün-Gelb-Wechsel der Querverkehr gelb oder auch schon grün bekommt. Das ist in Litauen und in Estland so – da ist also erhöhte Vorsicht geboten! In Lettland hingegen fährt man den gewohnten deutschen Stiefel.

Auf nach Lettland!
Storch sitzt in seinem Nest auf einem Telefonmast.

Es tuckert sich hier herrlich gemütlich und mit aller Zeit der Welt, immer an der Küste entlang Richtung Liepāja in Lettland. Am Wegesrand ächzt ein Holzstrommast unter der Last eines Storchennests. Ein solches Nest kann bis zu vierhundert Kilogramm wiegen, da wundert man sich, dass der altersschwache Holzstrommast es überhaupt noch tragen kann.

Vor mehr als zehn Jahren ging ein Aufschrei durch die Presse, weil der Chef eines litauischen Stromerzeugers von der EU forderte, die Umsiedlung der Störche von den altersschwachen Elektromasten auf neu zu installierende Nestplattformen zu finanzieren. Für vierhundert Euro pro Nest. Die Nester würden starke Abnutzungen bis hin zu Kurzschlüssen verursachen und da die Störche unter strengem Naturschutz stünden ... Nun gut, die Forderung ist offenbar ungehört verhallt, denn die Störche sitzen nach wie vor auf den alten Masten. Und sie vermehren sich: neueste Zahlen berichten von 13.000 Storchenpaaren, und das allein in Litauen, wo sie den Namen „Maskottchen Litauens“ tragen.

Motorradfahrer steht vor Grenzschild zu Lettland Hinweisschilder auf Tempolimits an der Grenze zu Lettland

Die lettische Grenze wirkt so unspektakulär wie heutzutage die meisten europäischen Grenzen. Ein Europaschild, das den lettischen Staat verkündet und zwei große Schilder, die die Geschwindigkeitslimits auf lettischen Straßen kurz und prägnant mit Symbolen erklären. Diese sind für alle drei baltischen Staaten identisch, da muss sich der Reisende also nicht großmächtig umgewöhnen: innerorts 50 km/h, außerorts 90 km/h und auf Autobahnen 130 km/h, wobei in Litauen im Winter ein Limit von 110 km/h auf Autobahnen gilt.

Einige Kilometer vor Liepāja treffen wir uns an einer Tankstelle mit einem motorradfahrenden Letten. Ainars kennen wir bisher nur digital aus einem Motorradforum. Er nimmt sich Zeit, um uns seine Heimatstadt Liepāja zu zeigen. Das erste, was wir von Ainars lernen: wir sprechen die Stadt falsch aus. Wie vermutlich die meisten Wörter. Zwei Vokale werden nicht wie bei uns zusammengezogen und zu einem verschmolzen. Es gibt kein „eu“ wie beim Euro. Der Lette trennt die Vokale und spricht: E-uro. So heißt die Stadt nicht Liepāja mit langem „ie“, sondern wird wie „Lijepaja“ gesprochen, mit Betonung auf dem kurzen, stimmlosen „e“. „Again what learned“.

Ainars zeigt uns Liepāja

Liepāja oder richtigerweise ein Stadtteil davon, Karosta, war die verbotene Stadt Lettlands. Unter dem russischen Zaren entwickelte sich Liepāja zu einer der wichtigsten Hafenstädte, die von 1906 bis 1914 sogar eine Fährlinie nach New York betrieb. Der Zar zeichnete auch dafür verantwortlich, dass Teile der Stadt jahrzehntelang im Grunde von der Außenwelt abgeschnitten wurden. Er baute in Liepāja den größten russischen Militärhafen im gesamten Baltikum und die erste U-Boot-Basis der baltischen Flotte, denn dieser Hafen blieb in der Regel eisfrei. Wegen seiner militärischen Bedeutung riegelten die russischen bzw. sowjetischen Machthaber den Stadtteil Karosta schließlich komplett ab. Er funktionierte autonom, mit eigener Wasser- und Stromversorgung, mit Schulen, Kirchen und sozialen Einrichtungen.

Weil man den Letten nicht genügend Loyalität zutraute, wohnten – und wohnen noch heute – in diesem Stadtteil ausschließlich Russischstämmige, denn das Militär hatte seine russische Soldatenschaft samt Familien aus anderen Sowjetrepubliken angesiedelt, in besten Zeiten 25.000 Menschen, heute nur noch 6000, die nach der Unabhängigkeit blieben. Gesamt-Liepāja hat derzeit um die 76.000 Einwohner. Besucher und sogar die Einwohner anderer Stadtteile Liepājas benötigten Passagierscheine, um Karosta, das ein Drittel des Stadtgebiets ausmachte, betreten zu können. Für Ausländer war die Stadt komplett tabu. Karten enthielten keinen Hinweis auf das Vorhandensein des Stadtteils oder jeglicher militärischer Anlagen.

Blick auf die russische Kathedrale in Karosta.

Während unserer letztjährigen Tour besuchten wir die russische Kathedrale mit ihren glänzenden Zwiebeltürmen und ließen uns zu einer Führung im ehemaligen Gefängnis überreden.

Die wechselvolle Geschichte beider Bauwerke verursacht abwechselnd Staunen, Kopfschütteln und Gruseln. Staunen und Kopfschütteln – weil die Kathedrale während der sowjetischen Ära unglaublich misshandelt wurde. Die Innenräume baute man zu Kinosälen und zeitweise sogar zu Sport- und Fitnessstätten um. Da die Akustik im Kino von den hohen Kuppeln gestört wurde, mauerte man sie kurzerhand zu. Und ein anhaltendes Gruseln erzeugt das Gefängnis. Während der Führung ist kaum zu glauben, was man hört. Wie gesagt, das war letztes Jahr und da wir diese beiden Gebäude also schon kennen, führt uns Ainars zu anderen markanten Sehenswürdigkeiten der Stadt.

Bis auf das dach des Bunkers
Frau geht auf grasbewachsenen Bunker in Liepaja zu

Wir erreichen vom Süden her ein Gebiet, in dem wir nicht sofort erkennen, welcher Art die Hügel ringsherum sind. Kleine sandige Trampelpfade schlängeln sich zwischen den gras- und unkrautbewachsenen Erhebungen hindurch und hinauf bis auf den höchsten Punkt. Bei genauerem Hinsehen entpuppen sich die unter den Hügeln versteckten Bauwerke als Bunker.

Ainars deutet an, jetzt käme das Highlight: Bis auf das Dach des Bunkers könne man hinauffahren, meint er. Aber ich solle wohl doch besser absteigen. Ufff! Ich darf absteigen! Gut, dass Ainars das empfiehlt. Denn allzu oft wird mir‘s da als Sozia fürchterlich heiß – weil Jochen einfach daraufzufährt, seine kleine Offroadabenteuerlust auslebt und zwar ungeachtet dessen, ob ich da hinten Blut und Wasser schwitze. Dann packt ihn bei anspruchsvolleren Passagen wohl der Ehrgeiz und eh‘ ich mich versehe, gibt er Gas. Mitgefangen, mitgehangen. Danke, Ainars. Ich steige sehr gerne ab. Dann dübeln die beiden Fahrer da hoch, einer nach dem anderen. Über einen Trampelpfad bis auf das betonierte Dach eines Bunkers.

Zwei Motorräder stehen auf dem Dach des Bunkers

Jochen schwänzelt etwas schwerfälliger durch die sandigen Passagen. Vielleicht hätten wir die Koffer vorher abmontieren sollen? Upps. Wird das gut gehen? Da scheint der Sand ja doch etwas tiefer zu sein... und jetzt eine Kurve!

Aber schließlich stehen wir drei heile auf dem Bunkerdach. Ringsherum befinden sich schmale, schlauchförmige Seen, fünfzig Meter breit, die keinen Zufluss oder eine Verbindung mit dem Meer zu haben scheinen. Sicher irgendwelche alten Gräben, mit Grundwasser gefüllt. Sie umschließen die Bunkeranlage fast vollständig. Wegen dieser hakenförmigen Gewässer ist das Areal übrigens auch gut in Karten zu lokalisieren.

Blick durch die zerstörten Fluchten der Bunker.

Im Anschluss lassen wir die Motorräder gemütlich durch dichten Wald rollen, bis wir auf einem großen Schotterplatz nördlich des Stadtteils Karosta stehen. Wir klettern einen Anstieg hinauf und stehen inmitten eines betonierten Scherbenhaufens am Strand der Ostsee. So weit das Auge reicht zerscherbelte Bunker. Als hätte ein Riese nicht mit seinen Kräften gewusst wohin. Große Würfel, Treppen, Verbindungsgänge in wundersamen Lagen. Dazwischen tobt die Ostsee und treibt die Gischt über den Beton.

So weit das Auge reicht zerscherbelte Bunker. Als hätte ein Riese nicht mit seinen Kräften gewusst wohin. Bunkerlinie entlang des Ufers bestehend aus mehreren Betonblöcken

Die Küstenlinie Liepājas wurde einst durch wuchtige Verteidigungsbauten geschützt. Die nördlichen Forts nennt man sie. Im neunzehnten Jahrhundert als Schutz der zaristischen Marinebasis erbaut, erkannten die Sowjets im ersten Weltkrieg hingegen schon bald, dass die Festungsbauten strategisch eine absolute Fehlplanung waren und versuchten sie wieder zu sprengen, bevor sie dem Feind in die Hände fallen konnten. Mit sehr wenig Erfolg, wie heute noch zu sehen ist.

Kilometerlang säumen schwere, massige Bunker die wilde Ostseeküste, teilweise hat die Ostsee die quadratischen Betonwürfel unterspült, so dass sie nach vorn ins Wasser kippten. Sie gänzlich abzutragen gelang nicht, dem Menschen nicht, den Naturgewalten nicht.

Schwere, massige Teile gesprengter Bunker liegen quer durcheinander

Ainars führt uns weiter über einen gut fahrbaren Waldweg. Links und rechts im Wald tauchen ab und zu schemenhaft Gebäuderuinen auf. Das russische Militär hat ein schwieriges und rätselhaftes Erbe hinterlassen. Und zwar eines, das großteils nicht enträtselt ist. Ein riesiges Areal mit Kasernengebäuden und militärischen Anlagen, die nur noch in Ruinen existieren. Dazwischen ist alles zugewuchert, Bäume und Unkraut, wo vorher nur Wiese war. Es ist gar nicht so einfach, sich vorzustellen, wie es vor der Unabhängigkeit hier aussah. Viele militärischen Objekte wurden beim recht überstürzten Abzug der Sowjets im Jahr 1994 verwüstet, um ihre Verwendungsmöglichkeiten und Einsatzgebiete so gut es geht zu verschleiern. Es sollte doch nichts dem Feind überlassen werden.

Gesprengte Betonblöcke der ehemaligen Festungsanlage des nördlichen Forts liegen quer durcheinander

Im fünfzig Kilometer entfernten Vainode zum Beispiel waren russische Raketen stationiert. Die Raketen sind jetzt weg, ganz klar, das russische Militär ließ nichts zurück, das Aufschluss über die vorhandene Technik hätte geben können. Aber die Schächte, die etagentiefen Löcher in der Erde, die während des kalten Krieges mit Raketen gefüllt waren, existieren nach wie vor. Erst vor wenigen Jahren wurden die Raketenöffnungen vollständig zugeschweißt, da ständig Unglücke passierten: Taucher, welche die in der Rampe verbliebenen Metalle bergen wollten, ertranken in den wassergefüllten Löchern. Andere Menschen, die hinabstiegen, erstickten an den giftigen Gasen, die vermutlich vom verbliebenem Raketentreibstoff abgesondert wurden.

U-boote, verbotene Wege und massig ruinen
Hafenanlage mit Bäumen

Weiter geht‘s durch zugewuchertes Brachland. Der U-Boot-Hafen ist unser nächstes Ziel. Pflanzen haben dort einen betonierten Platz großflächig besiegt und besiedelt. Ringsum versperrt Dickicht die Sicht auf Bauten, die sich gelegentlich in der Brache verstecken. Bäume, zehn bis fünfzehn Meter hoch.

Ainars zögert, fährt aber nach kurzer Überlegung weiter, hinein in einen schmalen Trampelpfad mit einem Fahrverbotsschild. Er meint, wenn einer kommt – er regele das dann. Schon nach wenigen Metern endet der Weg jedoch völlig zugewachsen an einer Häuserruine. Ainars berichtet, dieses Gebäude mit den riesigen, leeren Fensterbögen im ersten Stock kenne er noch als Jugendlicher. Es wäre ein Schwimmbad gewesen. Man mag es kaum glauben, wenn man die wenigen Reste davon zwischen den Bäumen und dem Gestrüpp sieht. Ainars betrieb als Jugendlicher Schwimmsport und darum hatten ihm seine Eltern eine amtliche Erlaubnis besorgt, womit er in dieses Hallenbad gehen durfte. Wir befinden uns ja immer noch inmitten der militärischen Sperrzone, die „normale“ Einwohner vor dem Umsturz nur mit Passagierschein betreten durften.

Schiff liegt in Hafenanlage vor Anker. Im Hintergrund Entladekähne.

Als wir die Motorräder abstellen und unsere Blicke in die Umgegend schweifen lassen, registrieren wir eine Bewegung. Im ersten Stockwerk, das also offensichtlich noch eine intakte Bodenplatte hat, lugt ein vielleicht vierzehnjähriges Mädchen aus den bogenförmigen, glaslosen Fensterhöhlen zu uns herunter und verschwindet sofort wieder. Auch einen Jungen sehen wir einen Moment lang. Ainars ruft ihnen etwas zu, aber das Pärchen zeigt sich nicht wieder. Ainars scheint die Anwesenheit der Kids nicht ganz geheuer zu sein. Er befürchtet, dass sie uns etwas klauen. Wir schlagen uns nur wenige Meter durch‘s Unterholz, überqueren einen Bahnschienenstrang und stehen vor einem breiten Becken mit einer Mole. Tara! Und Sie sehen ... nichts! Wir sind zu spät. Hier dümpelten bis vor einigen Jahren eine Menge verrostete, nicht mehr seetaugliche U-Boote herum. Doch sie sind weg. Schade!

U-Boote kennen wir ja nur aus dem Fernsehen. Vor einigen Jahren nahm sich eine Firma die ausgemusterten Schiffe vor, schweißte sie auseinander und verkaufte sie profitabel. Im Seitenarm des Kara-Osta-Kanals (der eigentliche Namensgeber des Stadtteils), in dem alle U-Boote früher lagen, sieht man noch eine Betonröhre. Das könnte ein U-Boot-Hangar gewesen sein. Auf der anderen Seite des Kanals hat ein Schiff namens Poseidon angelegt. Die Ladekräne und die flachen Gebäude im Hintergrund haben schon wesentlich bessere Tage gesehen.

Glanz und Gloria in Liepāja
Blick auf das aus Backsteinen bestehende Eingangsportal der Manege.

Ainars führt uns anschließend zu einem langgestreckten, ebenerdigen Backsteingebäude, bei dem nur noch die Außenmauern stehen. Das Dach fehlt, die ehemaligen Fensterbögen sind zugemauert. Auf den Mauerkronen wachsen Birkenbäumchen. Wir können uns erst einmal gar nicht vorstellen, welche Funktion dieses Gebäude innehatte, als es vor dem Ersten Weltkrieg um 1903 gebaut wurde. Manege nennt es Ainars. Manege? Irgendwas mit Tieren? Stimmt, mit Pferden! Bis zum Ersten Weltkrieg fand hier jeden Sonntag eine Parade der Artillerie- und Kavalleriepferde und Reitwettbewerbe statt sowie gelegentlich offizielle Empfänge und Gala-Dinner.

Motorrad steht auf einer Wiese im Inneren der sogenannten Manege. Das Dach fehlt.

Draußen sehen wir einen relativ kleinen Ofen mit einem fast zur Gänze weggebrochenen Kamin. Er diente dazu, das ganze Gebäude mittels eines Heißluftsystems zu beheizen. Das Dach muss ein Glasdach gewesen sein. Das Gebäude wäre wunderbar lichtdurchflutet gewesen, berichtet Ainars, zumal auch Mosaikfenster die Wände schmückten. Unter der Woche wurde die Manege für das Sporttraining der Matrosen genutzt. Auch wenn nur noch die Außenmauern erhalten sind, mit Ainars Beschreibungen ist der einstige Glanz noch ein klein wenig zu erahnen.

Blick auf einen alten bewohnten Beton-Wohnblock im Stadtteil Karosta.

Karosta selbst ist in einem erbarmungswürdigen Zustand. Löchrige, vielfach geflickte Straßen. Dem Verfall preisgegebene Betonwohnblöcke. Der Beton der Plattenbauten wird schwarz, bröselt, die Geländer der Balkone rosten vor sich hin und der Rost hinterlässt braune Spuren an der Hauswand. Dazu kommt, dass das Umfeld der Häuser ziemlich verwahrlost wirkt. Auch auf so manch einen Bewohner trifft diese Beschreibung zu. Dazwischen alte Backsteinhäuser, zwar auch ungepflegt, aber irgendwie erscheint einem Backstein bei weitem nicht so verkommen wie Beton. Es ist allzu verständlich, dass die Trostlosigkeit hier so manchen Einwohner zum übermäßigen Alkoholkonsum verleitet.

Bei unserer Fahrt durch Liepāja führt eine vierspurige Straße vorbei am Werksgelände des größten baltischen Stahlwerks Metalurgs. Ein nicht enden wollender Koloss aus Stahl, Beton und dicken Rohren. Das Gelände ist verwaist und Rost ist der dominierende „Anstrich“. Kein Arbeiter verdient darin mehr sein Brot, denn die Firma ist seit 2013 insolvent und stillgelegt. Die Geschichten über dieses kolossale Stahlwerk sind regelrechte Räuberpistolen. Man nannte die Unternehmensführung eine „demokratische Diktatur“, mehr kann man im Internet nachlesen.

Zwei Menschen gehen auf einem Wanderweg am Liepajasee

Auf der Ostseite des Ortes erstreckt sich der Liepājasee. Sechzehn Kilometer lang, jedoch nur drei Meter tief, ergibt der See ein beliebtes Vogelbeobachtungsgebiet, in dem uns Ainars zu einem hölzernen Aussichtsturm führt. Der Lagunensee ist mit der Ostsee durch den 1703 gebauten Stadtkanal verbunden, der der Stadt gleichzeitig als Hafen dient.

Ein ganzer und ein halber Shiguli

Ainars ist Gründungsmitglied eines kleinen Motorradclubs, hat sich jedoch nach eigenen Aussagen derzeit aus dem Kopf des Clubs ziemlich zurückgezogen. Aber er zeigt uns das jüngst fertiggestellte, kleine Clubheim und die Baustelle im ersten Stock, die mal so etwas wie ein Motorradhotel werden soll. Hotel ist vielleicht ein wenig zu hoch gegriffen. Übernachtungsmöglichkeit für befreundete Motorradfahrer trifft es wohl eher. Da eigentlich immer nur eine Person daran werkelt, braucht‘s noch viel Zeit und Geld. Das ganze Gebäude ist unscheinbar, ein alter Gewerbebau vermutlich, in direkter Nachbarschaft zu einigen Wohnblöcken.

Ainars stellt uns kurze Zeit später seinen besten Freund vor und besuchen ihn in seinem Firmengebäude. Er näht große Segel für Segelboote. Keinerlei Firmenschild oder Transparent deutet daraufhin, welche Firma in dem alten Gebäude arbeitet oder was sie herstellt. Ist scheinbar nicht so wichtig, Hauptsache, die Aufträge kommen und das tun sie offensichtlich. Vor dem Gebäude drückt sich ein teerartiger Brei aus einem Schacht. „Nicht reintreten!“, warnt Ainars. Immer wenn es viel regnete, erklärt Ainars, schwämmen undefinierbare Heizöl- oder „Sonstwas“-Rückstände mit dem Wasser nach oben, so dass sie hier zu Tage treten. Man hätte dies schon öfters an die Stadt gemeldet, aber die kümmere es nicht.

Ein alter Shiguli mit einem alten Koffer auf dem Dach

Vor der Tür parkt ein dotterblumengelber Shiguli. Das Gefährt ist schön restauriert, mit perfekt poliertem Lack, neu bezogenen Ledersitzen, runden Scheinwerfern und – das ist das I-Tüpfelchen dieses Gefährts – einem braunen Lederkoffer, der mit einem Riemen auf dem Dach befestigt ist.

Jochen mag das Auto und ich vor allem diesen Koffer! Das Gefährt wird wohl so um die vierzig Jahre alt sein und gehört dem Segeltuchmacher. Aber der Anhänger schlägt dem Fass den Boden aus! Sehen wir richtig? Ein halbes Auto als Anhänger? Wohlgemerkt als zugelassener Anhänger! Der Innenraum des Anhängers wurde so umgebaut, dass er als Schlafstätte für zwei (kleine) Personen und zum Gepäcktransport genutzt werden kann. Die Zulassung desselben muss allerdings etwas tricky gewesen sein, aber mit einigen Finten hat es dann doch geklappt.

Per pedes mit ainars
Blick auf diverse Kirchen und den Petermarkt

Teil 1 unserer Besichtigungstour ist beendet. Im Hinterhof des Hotel Liva* stellen wir das Motorrad ab und entern ein preiswertes Zimmerchen. Oh je, ist es heiß in dem Zimmer! Bestimmt über 30°C. Klar, eine komplette Glasfront nach Süden und unter unserem Fenster Dutzende Quadratmeter Teerpappen-Vordach, das die Sonne reflektiert. Auf Nachfrage bekommen wir einen Standventilator. Zwar mit fragwürdiger Standfestigkeit – am liebsten nicht anfassen, sonst fällt er um – aber derartige Nickligkeiten sind das Salz in der Suppe. Sonst hätte man ja nichts zu erzählen.

Am Hafen liegen hellgraue Minenräumschiffe Blick auf eine mit Bernstein gefüllte Sanduhr an der Hafenmole in Liepaja.

Nun sind wir beim zweiten Teil angelangt: wir erobern Liepāja zu Fuß. Am Hafen liegen hellgraue Minenräumschiffe, die gefährliche Rückstände aus der Ostsee fischen. Immer noch. Da drüben, der große, wuchtige Speicherbau aus Backstein wurde zum Hotel Promenade* umgebaut. Sehr stimmungsvoll, das Ganze! Ich denke laut: „Das wäre auch was für uns gewesen.“ Aber Ainars winkt ab. Viel zu teuer!

Bernstein ist ein vorherrschendes Thema, so auch hier an der Hafenmole in Liepāja. Mit einer Riesenmenge Bernstein hat man eine übermannsgroße Sanduhr gefüllt. Die Stadt ist im Aufbruch, das wird uns so richtig bewusst, als wir hinter die Kulissen schauen können. Ainars stoppt vor einem großen, nicht gerade neuen Gebäude mit schwerer Eisentür. Da wäre eine Indoor-Halfpipe drin, meint er. Und wirklich, eine Halfpipe! Von außen nicht ersichtlich, keine Schilder oder irgendwelche Hinweise. Gut, Fahrbetrieb ist derzeit keiner, das Ganze sieht wie eine Baustelle mit Halfpipe aus, alles etwas improvisiert und unorganisiert, aber der einzige Handwerker ist mit Inbrunst bei der Arbeit.

Bronzeskulpture mit Beil an Parkbank Bronzeskulptur eines Telefontechnikers an einem Mast hängend

Liepāja nennt sich die Hauptstadt der lettischen Musik, insbesondere der Rockmusik. Lettlands erstes Rockcafé befand sich in Liepāja. Wir steuern es an, aber es nennt sich nicht mehr Rockcafé, da es vor einiger Zeit schloss. Im verwinkelten Gebäude befindet sich heute ein ähnliches Lokal.

Am Rand des Platzes vor dem Restaurant tragen Steinquader die Händeabdrücke von Musikern. Alles Berühmtheiten. Für Ainars. Für uns nicht. Die Musik zieht sich symbolisch durch die ganze Stadt. Beim Stadtrundgang kann man sich von in den Boden eingelassenen Metallnoten leiten lassen, was keine schlechte Idee ist, in der Touristeninfo gibt es auch einen Plan dazu. Doch wir haben ja Ainars.

In der Stadt verteilt findet man einfallsreiche Bronzeskulpturen. Ein Holzfäller, ein Rabe sowie ein Telefontechniker in schwindelerregender Höhe an einem Telefonmast sind nur einige der Figuren aus der Hymne von Liepāja. Die Häuser bestehen aus Backstein, manche halbverfallen aus Beton, andere wieder aus verwittertem Holz. Gerade diese Holzhäuser haben es uns angetan. So schön! Wenn auch oft in miserablem Zustand. Doch das sind normale Steingebäude, mit Holz verkleidet. Darauf weist uns Ainars hin, als wir wiederholt von Holzhäusern sprechen.

Sonnenuntergang am weißen Strand
Warnschild vor Haien am Strand von Liepaja

Unser Rundgang zieht sich nun in Richtung Strand. Die breite, gepflasterte Promenade inmitten eines gepflegten Parkgürtels zwischen Meer und Stadt könnte sich in jeder europäischen Stadt befinden.

Hier treffen wir auf eines der vielen Superlative. Man sagt den Stadtbewohnern ja generell großen Stolz nach. So weist uns Ainars besonders auf diesen breiten, zwei Kilometer langen Strand mit Sand, weiß und fein wie Puderzucker, hin. In Russland füllen sie damit ohne weitere Behandlung Sanduhren, wird behauptet. Und um nur einige der weiteren Liepāja-eigenen Superlative zu nennen: die weltgrößte mechanische Orgel, die einzige Drehbrücke in Europa, die zur Seite schwenkt,das einzige für Touristen geöffnete Militärgefängnis, wir sahen es ja schon letztes Jahr, und noch vieles mehr.

Sonnenuntergang am Strand von Liepaja

Mittlerweile ist es nach 22 Uhr. Ainars Führung scheint jedoch noch lange nicht beendet. Wir kommen gerade richtig, zum Sonnenuntergang am Meer. Es bläst ein kräftiger, kalter Wind. Ainars besorgt mir zwei Decken, für die er Pfand berappt. Zwanzig Euro Pfand für die zwei Decken? Heftig, aber wohl der einzige Weg zu verhindern, dass der Deckenbestand rapide abnimmt. Als wir nach dreiundzwanzig Uhr wieder Richtung Stadt laufen, ist es bei weitem noch nicht dunkel. Dämmrig vielleicht.

Vorsicht vor vermeintlichem Bernstein
Das Wort Liepaja als mannshohe Buchstaben am Strand von Liepaja

Beim Thema, was man so am Strand alles finden und sammeln kann, kommt unser Gespräch auf die Altlasten, die in der Ostsee ruhen. Man möchte einerseits gar nicht wissen, was da alles in der Tiefe schlummert. Doch andererseits kann das Wissen, was die Meeresströmung an Land spülen kann, sehr hilfreich sein, um großen Schaden zu verhüten.

Ainars warnt uns eindringlich, frisch angespülten Bernstein in der Hosentasche verschwinden zu lassen, falls wir am Strand welchen fänden. Denn es könnte ein ganz anderer, zum Verwechseln ähnlicher, im wahrsten Sinne brandgefährlicher Stoff sein: weißer Phosphor. Sehr fatal an dem Phosphor sei nämlich sein Verhalten außerhalb des Wassers. Sobald Phosphor trocken wird und mit Sauerstoff reagiert, brennt er mit 1300 °C heißer Flamme ab. Wie sich dieser Klumpen dann ins Fleisch brennt, möchte man sich nicht detailliert ausmalen. Ainars rät deshalb, frisch gefundenen Bernstein erst mal in ein Glas zu füllen und ihn so zu transportieren.

Phosphor war im zweiten Weltkrieg in britischen Brandbomben enthalten, die auch über der Ostsee abgeworfen wurden. Nach dem Krieg entsorgten die Besatzungsmächte 85% der aufgefundenen Chemiewaffen ins Meer. Vor allem die Russen beschuldigt man dieser Umweltsünde. Klar, sie waren stocksauer, dass sie sich aus dem Baltikum zurückziehen mussten und wollten nichts zurücklassen, was irgendwie nützlich (oder interessant) sein konnte. Experten schätzen, dass 300.000 Tonnen hochgefährliches Material auf dem Meeresboden schlummert, dass dort unten Stahlbehälter vor sich hin rosten und damit eine tickende Zeitbombe darstellen. Wobei die Ostsee noch gut davon kommt: in der Nordsee schätzt man das gefährliche Erbe auf 1,3 Millionen Tonnen. Und das waren nicht die Russen.

Fotografie einer alten Postkarte von Liepaja.

Beim Rückweg durch den Park gelangen wir an einen Basketballplatz, auf dem einige Jugendliche trainieren. Ja, es ist noch hell genug dafür, jetzt um 23:15 Uhr. Dieser Sport ist hier in Lettland sehr populär. Vielleicht auch, weil die Letten generell recht großgewachsen sind. Erst kürzlich gab die Universität Zürich die Ergebnisse einer neuen Studie bekannt. Demnach leben die durchschnittlich größten Frauen in Lettland. 1,70 Meter im Durchschnitt, das ist echt groß. Ainars berichtet uns von einem jungen lettischen Basketballtalent aus Liepāja, der dieses Spielfeld gesponsert hat. Kristaps Porziņģis ist riesige 2,21 m groß und spielt mittlerweile in der NBA. Er wird im Basketballsport gerne als der europäische Nachfolger von Dirk Nowitzki bezeichnet. Ainars beschreibt ihn als Millionär, der auf dem Boden geblieben sei. Erst gestern sei er wieder unverhofft am Spielfeldrand aufgetaucht und hat den jungen Sportlern Tipps für sichere Würfe gegeben.

Ware feil: der petermarkt
Frauen bieten auf dem Martplatz verschiedene Gemüse an.

Das Wissen Ainars ist unschätzbar, so dass wir am liebsten eine weitere Nacht in Liepāja verbringen würden. Andererseits heizt sich aber unser Zimmer hinter der Glasfront des Hotels Liva* dermaßen auf, dass wir uns nur schwer vorstellen können, in dieser Bruthitze noch eine weitere Nacht zu schlafen und wir um die Mittagszeit weiterziehen wollen. Darum haben wir einen Super-Late-Check-Out um 12:30 Uhr vereinbart, so können wir mit Ainars nach dem Frühstück noch einige Dinge anschauen. Trotz straffem Programm bis 24 Uhr haben wir ja gestern nicht alles geschafft.

Frauen bieten auf dem Martplatz verschiedene Gemüse an.

Darum: hurtig zum Frühstück! Mit uns frühstücken eine Horde ellenlanger Kerle. Und wenn wir „groß“ sagen, dann heißt das groß! Alle dürften so um die zwei Meter messen. Natürlich hat man da sofort eine Basketballmannschaft im Kopf.

Und schon holt uns Ainars wieder ab. Das schicke Gebäude mit je einem Türmchen auf jeder Ecke nennt sich Petermarkt und beherbergt schon seit über hundert Jahren Verkaufsstände für allerlei Waren. In den Buden am Rand des Vorplatzes werden Kleidung, Schuhe und Hüte angeboten, während in der Platzmitte vor allem Frauen stehen, die die Früchte ihres Gartens anbieten: Gurken, Kartoffeln, Zwiebeln, Kohlköpfe, Knoblauch, Tomaten, Äpfel sowie Blumen, Kräuter, Garten- und Zierpflanzen. Zigeuner verkaufen selbst gesammelte Pilze und Beeren. Ich gönne mir ein paar knackfrische Einlegegurken (und ernte wie immer ungläubige Blicke von Jochen, der sich gar nicht vorstellen kann, wie man diese grünen Dinger so aus der Hand futtern kann) und ein Pfund Kirschen, von denen ich annehme, dass sie nicht in den heimischen Gärten wuchsen.

Etliche Fischköpfe für Suppe zum Verkauf

Im Inneren der Markthalle flanieren wir an meterlangen Ständen mit Backwaren, Fleisch- und Wurstwaren vorbei. Die Preise sind relativ hoch. Aber man hat natürlich keinen Vergleich. Im Keller ist die Fischabteilung untergebracht. Schon auf der Treppe nach unten weiß man, was es dort gibt. Den Geruch muss man mögen. Nicht jede der Verkäuferinnen hinter den Ladentheken ist begeistert, wenn wir sie fotografieren wollen. Eine schimpft böse vor sich hin. Ich frage Ainars, ob wir eine Russin erwischt haben und ob diese vielleicht aus religiösen Gründen nicht fotografiert werden will? Nein, es sei eine Lettin, meint er. Gut, dann findet sie sich vielleicht nicht so fotogen (eine Frau kann das verstehen ;-)). Oder befürchtet sie, dass wir ihre Schnitzer beim Filetieren des Fisches auch noch auf dem Foto festhalten?

Körperertüchtigung bei der Turmbesteigung

Gleich um die Ecke des Markts befindet sich ein weiteres Superlativ Liepājas, in dem Falle sogar der Welt: die größte mechanische Orgel in der barocken Dreifaltigkeitskathedrale (Liepājas Svētās Trīsvienības katedrāle). Wir erwähnten sie schon. Wobei die Aussagen von wegen „weltgrößte“ mit Vorsicht zu genießen sind. In Wikipedia steht, dass die Orgel bis 1968 die größte war, also scheint es neuere, imposantere Orgeln in der Welt zu geben. Derartige Aussagen verselbständigen sich ja gelegentlich, vor allem im Internet. Wer einen Tag vorher in der Kirche Bescheid sagt, kann für dreißig Euro sein eigenes, ganz persönliches Orgelkonzert bestellen. Dafür sind wir jetzt natürlich zu spät dran. So steigen wir einfach nur auf den Kirchturm hinauf. Unten finden wir eine Wandmalerei mit eigentümlicher, aber eindeutig deutscher Sprache und oben eine mächtige Glocke mit deutscher Inschrift vor.

Blick von der Dreifaltigkeitskathedrale auf die bernsteinfarbene Konzerthalle und den Hafen.

Da unten in der Stadt, direkt vor unserer Nase, ragt etwas „schöps“ das oberen Drittel eines riesigen, verglasten Keils aus dem Boden, eine bessere Beschreibung fällt mir dafür nicht ein.Der schiefe Keil ist die neu gebaute Konzerthalle „Großer Bernstein“, so genannt, weil die Fassade komplett mit orange-getöntem Glas verkleidet ist und je nach Sonnenstand in den verschiedenen Bernstein-Farbnuancen schimmert. Sie ist ein Symbol für die Ambitionen der Stadt, die alten Zeiten hinter sich zu lassen und darum ein solch fremdartiges Monster inmitten althergebrachter Architektur aus Stuck und Backsteinpositionierte. Im Kanal dahinter liegen ein grauer Minenräumer und diverse Boote. Zahlreiche Kräne strecken am Meer, das ganz nah scheint, ihre Arme gen Himmel. Dort drüben am Hafen gähnen leere Fensterhöhlen aus alten Backsteingebäuden vor neueren Edelstahlsilos und Schornsteine streben in den Himmel. Auf der anderen Seite schimmert das Blau des Liepāja-Sees. Die Stadt ist von Wasser umzingelt.

Sigulda | Kurven in der lettischen Schweiz
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