Motorradtouren Baltikum Tour 2 | Litauen & Lettland & Estland Lettland Jūrmala

Jūrmala | Lettlands Glanz und Gloria

Motorradfahrer steht unter Dach uns sieht Autos im Regen vorbei fahren.

Nächster Morgen. Die Wettervorhersagen für den heutigen Tag sind nicht rosig. Regenschauer wohin wir schauen. Als wir im Hotel Porto Resort* in Lilaste losfahren, sieht es hingegen gar nicht mal so schlecht aus. Die Temperatur liegt um 18 °C. Der Himmel ist bedeckt, doch es regnet nicht – was wollen wir mehr? Wir kennen diese Ecke schon vom letzten Jahr, da mussten wir nach unserer Panne allerdings schon mit dem Mietwagen anreisen.

Erstes Zwischenziel ist heute der mondäne Badeort Jūrmala. Dazwischen liegt Rīga. Erst wollten wir einen großen Bogen um Rīga zu machen, was auf Fernverkehrsstraßen mit Autobahncharakter locker möglich wäre. Doch irgendwas reitet uns. Was soll uns denn passieren, wenn wir mittendurch fahren? Also gut. Irgendwann fängt es an zu regnen, okay, Kopf einziehen und durch. Immer wieder passieren wir Ampeln und geraten in Stop-and-Go-Verkehr. War es vielleicht doch ein Fehler, durch die Stadt zu gondeln? Einer Großstadt mit 700.000 Einwohnern?

Wassertaufe in Rīga
Motorradfahrer steht unter Dach uns sieht Autos im Regen vorbei fahren.

Und dann öffnet Petrus die Schleusen komplett. Er schüttet lettische Kinderbadewannen über uns aus. Der Abwasserkanal fasst die Wassermassen nicht mehr, die Straßen stehen wadentief unter Wasser. Ob da Kopfeinziehen noch reicht? Der Beste aller Fahrer meint, wir sollten uns nun doch besser mal einen Unterstand suchen. Wenn er derartiges sagt – und das tut er nicht sehr oft – dann kübelt es mit Sicherheit richtig dicke. Aber es dauert noch mindestens einen Kilometer, bis wir eine überdachte, tunnelartige Durchfahrt finden, in dem wir den Badewannenguss ausstehen. Zum Sitzen gibt es ja nichts.

Vor uns hat sich ein tiefer See gebildet. Die Autos verursachen meterhohe Fontänen. Na, wenigstens haben wir während des Regengusses was zu schauen. Das fünfstöckige Gebäude uns gegenüber ist wie so viele Häuser in Rīga mit Jugendstilelementen verziert. Es hat sehenswerte Figuren am Dachabschluss, jedoch sieht man die vermutlich nur, wenn man so wie wir nichts anderes zu tun hat außer auf die Wasserschwälle oder in die Luft zu gucken. Ein weiteres Auto hält hinter uns in der breiten Durchfahrt. In der kompletten Durchfahrt herrscht Halteverbot. Darin parken nun aber mittlerweile auf jeder Seite mindestens zwei Fahrzeuge. Und trotzdem bleibt genug Platz, um in der Mitte noch hindurch zu fahren. Eine junge Frau mit Kleinwagen zwängt sich hinter uns, steigt aus, deutet mit vorwurfsvoller Gestik auf das Halteverbotsschild sowie auf unser Motorrad, schließt ihr Auto ab und geht weg.

Wir können froh sein, nicht die Umfahrung gewählt zu haben. Denn Unterstände für wasserscheue Motorradfahrer sind dort mit 100%iger Wahrscheinlichkeit nicht zu finden. Vielleicht hätten wir es schneller aus dem Guss raus geschafft. Aber ob wir danach auch trockener gewesen wären?

Unsere neuen MODEKA-Dreilagen-Jacken haben ihre Feuertaufe mit Bravour bestanden. Als es anfing zu tröpfeln, dachten wir nicht an eine Sintflut. Am meisten Bedenken hatte ich bei den Belüftungsbrustpatten, die nur mit Klett und Magneten geschlossen werden. Ob da nicht das Wasser im Ernstfall reinläuft? Aber alles trocken! Wow! Bei mir als Sozia ist das kein Hexenwerk, ich bin durch den breiten Rücken meines Fahrers geschützt. Aber bei Jochen? Der war der Sintflut bestimmt zwanzig Minuten lang ausgesetzt. Respekt. Auch meine Daytona-Stiefel sind auch nach neun Jahren immer noch tadellos dicht. Bei einer Tour vor ein paar Jahren bekam ich mal etwas feuchte Füße. Da fiel mir voller Reue ein, dass ich vergessen hatte, sie zu Saisonbeginn zu pflegen. Selber schuld. Die Rückfrage beim rumänischen Pensionswirt brachte nur Kopfschütteln: Schuhcreme – was ist denn das? Er bräuchte so was nicht, meinte er, und brachte mir eine Speckschwarte. Damit eingecremt hatte ich wieder Ruhe für die restliche Tour und vergesse seitdem nie mehr die Schuhpflege im Frühjahr.

Jurmala – Glanz und Gloria mit Turtle
Alte restaurierte Holzvilla mit Turm in weiß.

Wir nähern uns dem Badeort Jūrmala. Ursprünglich hieß es „Rīgas Jūrmala“ – Rīgas Strand. Klar, das ist passend. Das sind viele kleine Orte, die dreißig Kilometer lang ineinander übergehen und unter dem Begriff Jūrmala zusammengefasst sind. Aber vorher suchen wir die Citymautstation. Die Citymaut kostet zwei Euro. Damit erwirbt man die Berechtigung für die Ein-und Durchfahrt während eines Zeitraums von 24 Stunden. Die Verkehrsführung ist Sch... sorry, aber anders kann man das nicht sagen. Irgendwann haben wir uns durchgefummelt bis zu den Mautautomaten, aber dann stehen wir immer noch auf der falschen Seite! Von den Mautautomaten (ähnlich unseren deutschen Parkautomaten) trennt uns ein Grünstreifen. Verdammt!

Ich will gerade absteigen, um mich als Rasenlatscher zu betätigen, während Jochen am Fahrbahnrand auf mich wartet. Da kommt der Ordnungsbeauftragte aus dem zwanzig Meter entfernten Gebäude. Mist! Will er uns schon wieder abkassieren wie letztes Jahr? Da hatten wir die Mautgeschichte nicht kapiert und sind durchgerauscht. Weit kamen wir nicht. Umgehend wurden wir rausgezogen und durften Strafe zahlen. Jochen folgt dem Winken und fährt zum Polizeihäuschen. Durch die Gegensprechanlage höre ich sein Gespräch mit dem Beamten. Der nette Herr in neongelbem Westchen erklärt ihm, dass nur Autofahrer die Citymaut bezahlen müssten, als Motorradfahrer benötigten wir kein Ticket. Ach, umsonst gestresst.

Am Strand von Jurmala

Also dann ein bisschen Glanz und Gloria. Jūrmala war einst berühmte Sommerfrische russischer Fabrikanten, deutscher Bankiers und lettischer Künstler. Wer was auf sich hielt, hatte eine Villa in Jūrmala. Noch heute gibt es tausende Villen, die viele Millionen wert sind. Jūrmala ist wieder dabei, seinen vergangenen Glanz aufzupolieren. Im Sommer strömen die Menschen zu Tausenden an denweißen Sandstrand. Jūrmala ist vor allem bei den Russen berühmt. Zu Sowjetzeiten war es fast unmöglich, einen Platz am weißen Sandstrand zu ergattern.

Nach der Unabhängigkeit Lettlands kamen die Russen jedoch nicht mehr. Oder anders: sie konnten nicht mehr. Nach der Unabhängigkeit erschwerte der lettische Staat den russischen Touristen vorerst die Einreise. Die man gerade rausgeschmissen hatte, wollte man nicht gleich wieder drin haben. Aber mittlerweile strömen die Urlauber wieder, egal welcher Nationalität. Auch russische Investoren kommen. Viele der modernen Apartmenthäuser, der klassizistischen Villen und der historischen Holzhäuser aus der Zeit des russischen Zaren haben inzwischen russische Besitzer. Denn es lockt nicht nur die wunderschöne Lage sowie die profitable Zukunft des Landstrichs, sondern auch eine ganz besondere Bedingung: Wer für mindestens 250.000 Euro eine Immobilie kauft, der erhält für einen Zeitraum von fünf Jahren ein Schengen-Visum und kann ohne Hindernisse durch die Staaten des Euro-Raumes reisen.

Soljanka im Teller angerichtet

In einem Restaurant in Majori nehmen wir im Außenbereich Platz. Rein wollen wir wegen unserer nassen Motorradhosen nicht. Ich bestelle eine Soljanka. Der Kellner schaut mich fragend an und wiederholt schließlich mit erhellender Miene: „Seljanka?“ Ach ja, ich vergaß. Die Suppe, bei der ich inständig hoffe, dass sie nicht aus Resten hergestellt wird, wird bei den Letten mit „e“ geschrieben und gesprochen.

Mal eine andere Turtle. Nur ist sie uns viiiiel zu langsam.

Am Strand von Majori hat sich seit letztem Jahr nichts verändert. Wir gehen nicht zum Baden, eher aus Nostalgiegründen schauen wir uns hier noch einmal um. Die Möwe sitzt immer noch auf dem Hinweisschild am Strand. Wie letztes Jahr. Einige Menschen tummeln sich am Strand und im Wasser. Beim Seepavillon und dem „Jūrmala Beach Hotel” bewacht eine große bronzene Schildkröte den Strandzugang. Letztes Jahr bot sie uns ein witziges Motiv: der Kuhtreiber auf der Bronzeturtle anstatt auf unserer havarierten „Big Turtle“. Dieses Jahr parkt die „Big Turtle“ brav weiter oben an der Straße, während wir einige Bilder mit der Schildkröte schießen. Letztes Jahr in Freizeitkleidung, dieses Jahr in Motorrradklamotten. So muss es sein.

Plötzlich spricht uns ein Passant in astreinem Deutsch an. Wie sich herausstellt, ein Essener, der sich vor Jahren hier ein Haus zugelegt hat. Ruckzuck entsteht ein angeregtes Gespräch als ob sich alte Bekannte treffen und viel zu erzählen haben. Die Abenteuer, als er in Majori ein Haus kaufte und versuchte, es wieder bewohnbar zu machen, versetzen uns in amüsiertes Staunen. Ohne massig Zeit und Durchhaltevermögen sowie einigen Sprach- und auch Gesetzeskenntnissen geht da gar nichts. Das wäre nix für uns. Dagegen stellt der Essener fest, dass für ihn unsere Art zu reisen, mit dem Motorrad, nicht in Frage käme. Jeder Mensch hat eben andere Talente und Vorlieben. Gott sei Dank! Wäre ja sonst langweilig, wenn alle Menschen nur Häuser renovierten oder alle mit dem Motorrad verreisten.

Roja
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