Irrende Felsen? Wilde Löcher?
Nächster Morgen. Unsere Ausfahrt beginnt ein bisschen chaotisch, weil wir uns immer wieder in den niegelnagelneuen Straßen um Klotzko (Glatz) verfranzen. Hier gibt's eigenartige Kreisverkehre, bei denen man sich in zwei Spuren einordnen muss: rechte Spur heißt erste Ausfahrt raus, linke Spur erst die zweite. Ist man auf der inneren Spur, versehentlich, ist es Essig mit spontan rausfahren, denn da klebt ein dicker Fahrspurbegrenzer auf dem Asphalt – eine Ehrenrunde ist angesagt.
Unser heutiges Ziel sind die „Błędne Skały“. Das Internet bietet die tollsten Übersetzungen für diese steinernen Gebilde. „Falsche Felsen“, „Fehlerhafte Felsen“, „Irr-Felsen“, „Irrende Felsen“ oder auch „Wilde Löcher“. Das sind die bekanntesten Sandsteinformationen im Großen Heuscheuergebirge (Góry Stołowe), am nordwestlichen Rand des Glatzer Berglandes gelegen. Oben auf dem einzigen Tafelberg Polens hat die Erosion ein Felslabyrinth von meist sehr schmalen Felsenspalten und -gassen geschaffen, die die Felsenblöcke voneinander trennen.
Wir könnten unten am Fuße des Großen Heuscheuer parken und loslaufen, durch den schattigen Wald geht es stetig nach oben. Doch wir entscheiden uns für die bequeme Variante: wir nutzen die mautpflichtige Zufahrt bis zu einem Parkplatz auf dem Berg. Die schmale Schotter-Straße ist nur einspurig ausgebaut und die Auffahrt zeitlich reglementiert, wie beim Staller Sattel in Südtirol. Rauf geht’s immer zur vollen und runter zur halben Stunde.
Die Koffer sind leer, damit wir die Motorradklamotten hineinstopfen können. Denn die Felsen in den dicken Klamotten zu erwandern wäre zu warm und zweitens möchten wir nicht stecken bleiben. Kein Scherz: Die Felsschluchten sind seeeeehr eng und breitere Hüften könnten durchaus Passprobleme bekommen. In Tschechien haben wir solche „Felsstädte“ schon erwandert, einmal sogar schon in Motorradhosen, was nur bei einer einzigen Stelle etwas schabende Geräusche machte. Aber zu warm war's auf jeden Fall, schon aus diesem Grund legen wir am Motorrad lieber einen Striptease hin. Also so viel anders kann das ja hier auch nicht sein. Dachten wir.
Durch seine exponierte Lage auf dem Hochplateau hat man von den Felsen am Rande des Gebiets einen wunderschönen Blick weit ins Land und hinunter auf die tschechischen Dörfer, denn jenseits der Felsen liegt die polnisch-tschechische Landesgrenze. Ein Teil des 1993 gegründeten Nationalparks befindet sich in der Tschechischen Republik, wo die Pendant-Felsgebiete Broumovské stěny (Braunauer Wände) heißen.
Jetzt sind wir also oben und stapfen zusammen mit vielen anderen Besuchern los. Das Gros der mit der aktuellen Ampelphase eingetroffenen Besucher ist schon losgegangen, während wir uns umzogen. Doch es sind immer noch genug Menschen vor und hinter uns auf dem One-Way-Rundgang. Der Boden am Fuß der Felsen ist an vielen Stellen feucht, manchmal richtig morastig. Damit die Besucher die vorgegebene Route trockenen Fußes durchwandern können, wurden Stege aus Holzbohlen gebaut. Nur wenig Sonnenlicht trifft den Grund des Felsgebietes. Nur dort, wo sich zwischen den Felsen etwas großzügigere Freiräume bildeten, kann die Sonne die Nässe aus dem Boden ziehen. Viele der Felsgebilde haben ihre eigenen Namen. Kurza Stopka ist einer davon. Endlich mal ein polnischer Name, den wir (vielleicht) korrekt aussprechen können. Übersetzt heißt das Hühnerbein.
Achtung! Bauch einziehen!
Einige Schächte sind eng, sehr eng. Und dummerweise bilden die Schluchten auch nicht immer einen 90-Grad-Winkel zum Boden. Meterlang stützen wir uns mit den Händen auf dem Fels ab, den Hintern rausgestreckt und die Füße weit hinten. So tänzeln wir in eigenartig anmutender Schräglage durch die engen Ritzen. Jeder hat eine Kamera in der Hand und einen kleinen Rucksack auf dem Buckel, das ist an manchen Stellen echt eine Kunst, die heil da durch zu bringen! Da die Sonnenstrahlen zum Auflecken der Feuchtigkeit keine Kurven fliegen, sind die Böden in den krummen, sauengen Schloten glitschig und die Wände feucht und vermoost.
Plötzlich gerät unser Gänsemarsch ins Stocken. Jochen steckt mit seinen fast zwei Metern fest. Okay, auch die Masse in der Körpermitte ist nicht unentscheidend. Er kann sich drehen, wenden und schieben, wie er will. Keine Chance. Der Felsspalt ist oben weit, unten weit, aber in Hüfthöhe läuft er bis auf ein nicht körperkompatibles Maß zusammen. Und das auf mehreren Metern Länge. Rückwärtsgang! Er stemmt sich wieder raus aus dem Schraubstock, auch, um den Nachfolgenden die Passage freizugeben.
Es bleibt nur eine Möglichkeit: auf die Knie! Vorher packen wir die Kameras in die Rucksäcke, um freie Hände zu haben. Jochen schiebt den Sack mit der Kamera vor sich her und robbt hinterher. Ich watschele im Entengang hindurch. An einer zweiten Scharte wiederholt sich das Ganze noch einmal. Schade, genau von diesen Engstellen hätten wir gerne Foto- und Videoaufnahmen gemacht. Doch mit unserer Filmerei hätten wir den ganzen Verkehr aufgehalten. Ein einsames Vergnügen ist das Felsgebiet leider nicht. Der Andrang ist groß, an schönen Tagen schieben sich eine Menge Touristen hindurch.
Rundtour