Motorradtouren Baltikum Tour 1 | Litauen & Lettland Litauen Memelgebiet

Auf Tour durch's Memelgebiet | Brechtas' Gehöft

Tisch mit alten Küchenutensilien und blauer Kaffeekanne

Der erste angefahrene Wegpunkt ist Agluonėnai, ein kleines Dorf mit Zungenbrecher-Namen südöstlich von Klaipėda. Dort besuchen wir ein Bauerngehöft, das typisch für die Region ist und heute als ethnografisches Museum die Lebensumstände vor 100 Jahren zeigt. Gabija Šutkienė, eine junge Dame mit kohlrabenschwarzen Augen, führt durch die alten Gebäude. Wir sind die einzigen Besucher. In Erinnerung bleibt uns vor allem die Tatsache, dass der Sohn des Gehöftbesitzers Jurgis Brechtas Anfang des 20. Jahrhunderts auf eine zweijährige Radtour ging und in Amerika spurlos verschwand.

Ventė ist eine kilometerlange Landzunge, die sich parallel zur kurischen Nehrung in die Ostsee reckt. Die elf Kilometer entfernten Dünen der Nehrung leuchten am Horizont über dem Meer. Der Begriff Nehrung bezeichnet einen schmalen Sandstreifen, der das offene, gezeitenlose Meer – die Ostsee ist so eines – vom Haff trennt. Wir werden die kurische Nehrung am Ende unserer Tour noch unter die Räder nehmen.

Fahnenstange mit verschiedenen Symbolen

Wir suchen Ventės ragas (früher „Windenburger Ecke”), den Leuchtturm von Ventė. Ab einem Parkplatz herrscht Fahrverbot – den Rest müssten wir laufen, wir schätzen so einen Kilometer. Uns treibt es weiter. Der elf Meter hohe Backstein-Leuchtturm aus dem Jahre 1863 lockt uns heute nicht genug.

In einem Kiosk werden Eis und andere Lebensmittel verkauft, auch große geräucherte Fische sind im Angebot. Das sieht äußerst lecker aus, taugt nur momentan nicht für den Unterwegs-Speiseplan und zu volle Motorradkoffer.

Storch im Nest auf Hausspitze

Bei der Fahrt durch die einsamen Felder zwischen den Dörfern stürzt sich ein Rebhuhn todesverachtend vor unsere Räder. Wir können gerade noch rechtzeitig bremsen. Auch Graureiher staksen durch die Wiesen, die häufigsten Straßenrandbewohner sind jedoch Störche. 11.000 Storchenpaare sollen in Litauen leben. Paare! Das heißt, es sind 22.000 Störche, die in Litauen zum Landschaftsbild gehören, sie könnten auch den Beinamen „Maskottchen Litauens” tragen. Adebar findet in den feuchten Wiesen, Mooren und Wäldern ein reiches Futterangebot vor. Außerdem wartet Litauen und Lettland mit je 3000 Seen auf, an deren Ufern es gewiss auch genug zu naschen gibt. Die Nester auf den Masten und Häuserdächern sind nicht zu übersehen und oft lugen in der Höhe ein, zwei kleine Köpfe des Nachwuchses heraus.

Storchennester können bis zu 400 Kilogramm wiegen. Zuviel für so manchen altersschwachen Holzstrommast oder die uralten Hausdächer. Vor 10 Jahren ging ein Aufschrei durch die Presse, weil der Chef eines litauischen Stromerzeugers von der EU forderte, die Umsiedlung der Störche von den altersschwachen Elektromasten auf neu zu installierende Nestplattformen zu finanzieren. Für 400 Euro pro Nest. Die Nester würden starke Abnutzungen bis hin zu Kurzschlüssen verursachen und da die Störche unter strengem Naturschutz stünden ... Die Forderung ist offenbar ungehört verhallt, denn die Störche sitzen nach wie vor auf den alten Masten.

Junge auf Fahrrad vor Holzhütte

Weite Niederungen mit zahllosen, größeren und kleineren Mooren sowie unergiebigen Sandböden prägen das Landschaftsbild. Ein-, zweimal lotst uns „Steffi” auch in Sackgassen, in denen uns kläffende Hunde empfangen. Die Straßen sind nicht immer geteert. Die Schotterpisten sind jedoch ausgesprochen gepflegt und festgefahren. Sie haben keinerlei Schlaglöcher. Wie machen die litauischen Straßenbauer das? Eine Geschwindigkeit von 80 km/h kann man gut fahren.

Ansammlung alter Hütten auf Wiese

Während ich bei einem Foto-Halt über die Wiese stapfe, wartet Jochen am Motorrad. Ein Mann auf einem Fahrrad fährt winkend vorbei und spricht Jochen auf litauisch an. Da wir beide unsere Helme auf dem Kopf und die Gegensprechanlage eingeschaltet haben, verfolge ich aus fünfzig Meter Entfernung die fruchtlosen Kontaktversuche des Litauers. Jochen versteht leider kein Wort. Sicher wollte der Mann nur wissen, woher wir kommen ...

Die Straße mit der Nummer 141 führt an der träge dahin fließenden Memel entlang und durchkreuzt dabei nette, kleine Orte. Manchmal ist die Streckenführung sogar ein wenig kurvig, dann wieder verläuft die Straße schnur geradeaus. Backsteingebäude in einigermaßen gutem Zustand wechseln sich mit Holzhäusern ab. Manche könnten einen Anstrich vertragen. Eine schöne Strecke!

Fluss der Sehnsucht
Motorradfahrerin sitzt auf Mauer und schaut auf die im Hintergrund fließende Memel

Die Memel. Ein Fluss, der in jeder Sprache seinen eigenen Namen hat: Nemunas auf Litauisch, Neman auf Russisch, Njoman auf Weißrussisch, Niemen auf Polnisch. Die Memel entspringt bei Minsk in Weißrussland und mündet nach 937 Kilometern ins Kurische Haff an der Ostsee. Auf den letzten 110 Kilometern bildet sie die Grenze zwischen Litauen und Russland bzw. der Exklave Kaliningrad. Obwohl wir eigentlich immer dafür plädieren, die jeweiligen Namen in der Landessprache zu benutzen, sprechen wir schon nach kurzer Zeit nur von der „Memel” und nicht vom „Nemunas”. Vermutlich ist die Memel in der Literatur einfach zu gängig und auch unsere Gesprächspartner benutzen durchweg den deutschen Namen. (Übrigens ebenso ein kleines Rätsel: warum „die Memel”, aber „der Nemunas”?)

Hofeinfahrt und im Hintergrund die Memel

Am Nachmittag folgen wir einer Einladung zum Kaffee in Smalininkai. Wir sind schon seit einiger Zeit Mitglieder der Facebook-Gruppe „Litauen – Freunde & Friends”, in der sich Deutsche mit Bezug zu Litauen tummeln, sowie Litauer, die in Deutschland leben. Dort erhaschten wir im Vorfeld viele Anregungen, Fragen wurden beantwortet und unter anderem erhielten wir eine Einladung zum Kaffee. Bis 1945 hieß Smalininkai Schmalleningken. In diesem kleinen Ort sind wir mit Violeta verabredet, einer Litauerin, die wir bisher nur digital kennen. Das soll sich heute aber ändern.

Smalininkai
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