Berg der Kreuze
In der kräftigen Abendsonne erreichen wir Šiauliai.
Wäre nicht ein ganz besonderer Berg unser Ziel, an der Industriestadt Šiauliai (Schaulai gesprochen) reizte uns ansonsten nicht viel: über 100.000 Einwohner und nur wenige alte Gemäuer, da ein Großteil der Gebäude in den beiden Weltkriegen beschädigt oder zerstört wurden. Einige Kilometer außerhalb der Stadt finden wir ein Motel mit dem Namen Sodyba Girele*, auf einem 4,5 Hektar großen Areal mit vier Gebäuden beziehen wir ein Zimmer zu einem moderaten Preis.
Endlich haben wir Gelegenheit im Restaurant Cepelinai zu bestellen. Cepelinai bestehen aus Kartoffelteig und wer Thüringer Klöße (also rohe Klöße) kennt, bekommt eine erste Ahnung wie die litauischen Luftschiffe schmecken, nämlich sehr, sehr lecker!
Sie sind geformt wie Zeppeline (der Name sagt es schon) und kommen mit einer Überraschung daher: entweder sind sie mit Schweinehackfleisch gefüllt oder auch mit Quark. Gewürzt werden sie mit etwas Knoblauch sowie Minze, dazu wird eine würzige Sauerrahmsoße mit Speckwürfeln serviert. Die Litauer haben einige Kartoffelgerichte auf ihren Speisekarten stehen. Scherzhaft behaupten sie, die Knolle sei der einzige Bodenschatz ihres Landes. Die Knollen kamen erst relativ spät, im 18. Jahrhundert, nach Litauen. Sie haben schnell die Küchen erobert, heute sind Kartoffeln quasi das zweite Brot der Litauer.
Im großen Gelände sind überall geschnitzte Holzfiguren aufgestellt, auch das scheint typisch. Klar, Holz haben die Litauer ja genug. Unter anderem rührt hinten am Waldrand die lebensgroß geschnitzte Hexe "Baba Jaga" in einem dicken Trog. Wobei der Name Hexe "Baba Jaga" im Grunde doppeltgemoppelt ist, da "Baba Jaga" in der slawischen Mythologie einfach "Hexe" bedeutet. Hinter dem buckligen Mütterchen steht ein schief zusammengezimmertes Haus auf Hühnerbeinen, das typische Domizil einer"Baba Jaga".
Die Abende sind lang, die Sonne senkt sich erst spät hinter den Horizont. Um 23:30 Uhr ist es immer noch nicht vollständig dunkel. Bis zur Sommersonnenwende vergehen noch zwei Wochen. Es gibt zwar keine richtigen "weißen Nächte", aber am 21. Juni scheint neunzehn Stunden lang die Sonne und nur fünf Stunden währt die Dunkelheit. Einer heller Streif am Horizont bleibt aber immer. Die Johannisnacht hat für die Menschen in den baltischen Staaten eine große Bedeutung und wird mit traditionellen Gebräuchen gefeiert - und mit einem Heidenspaß. Letzteres ist in diesem Falle wörtlich zu nehmen. Die Litauer bezeichnen sich selbst gern als die letzten Heiden Europas. Sogar die Regierungschefin hat sich bei ihrer Amtseinführung einer heidnischen Prozedur unterzogen. Als Regierungschefin erntete sie dafür einigen Spott - aus dem Alltag der Menschen sind die Bräuche jedoch nicht wegzudenken.
Für fast jeden Gegenstand gibt es einen Gott, der für dessen Werden und Gedeihen zuständig ist. Für das Wetter ist Perkūnas zuständig, der Donnergott. Die Litauer brauchen einen Gott für das Brüllen von Ochsen, einen für die Haselnussernte, auch einen Gott der Spanferkel gibt es, weiterhin einen Backofengott, einen Brau-, Met-und Gärgott. Die Liste ließe sich noch einige Absätze lang fortsetzen. Einer dieser Götter meinte es auf dieser Tour ausnahmsweise mal nicht so gut mit uns: der Gott der Reisenden, er heißt Mēness oder Mėnulis (aber dieser ist auch gleichzeitig der Kriegsgott). Mein Zahnopfer vor der Fährfahrt hat ihn wohl nicht gnädig genug gestimmt. Dafür setzte sich der Regengott während der kompletten Tour umso mehr für uns ein: Regen im Baltikum? Wo?
Ein Motorradfahrer schrieb vor Jahren in seinem Reisebericht, dass man im Baltikum mit einem von beiden leben müsste: Regen oder Mücken. Auf eine dieser lästigen Seuchen träfe man immer. Unsere Regenstatistik können wir erst am Ende aufstellen, aber bis jetzt dümpelt die Anzahl der Regenstunden bei spektakulären null herum! Auch die OFF-Antimückensprays haben wir bisher umsonst mitgeschleppt. Aber die Mückengitter sind gewiss nicht ohne Grund überall vor den Fenstern.
Frühstück im Motel Sodyba Girele*. Es gibt Omelett mit Speck und Jochen wählt einen Pfannkuchen mit Sahne und Erdbeersoße. Diese Art des Frühstücks ist hierzulande Usus. Es wird uns noch ein-, zweimal begegnen, dieses Frühstück aus wahlweise Pfannkuchen oder Omelett, offensichtlich vor allem außerhalb der Saison, wenn man die Anzahl der (spontan eintrudelnden) Gäste nicht recht abschätzen kann. Bei mehr Gästen wird dann eher mal ein Bufett aufgebaut. Wir sitzen gemütlich auf der Terrasse, es ist zwar noch kühl und der Wind wuschelt in den Haaren, aber wir genießen jeden Sonnenstrahl, den wir erhaschen können. Die Sonne steigt langsam höher - es verspricht ein perfekter Tag zu werden.
Berg der Kreuze
"Kryžiu kalnas" ist litauisch und bedeutet "Berg der Kreuze". Die Kultstätte mit zigtausenden Kreuzen ist ein eindrucksvolles Beispiel für Frömmigkeit, Volkstümlichkeit und religiösem Widerstand gegen die russische Herrschaft. Seinen Ursprung hat der mystische Kreuzberg Ende des 19. Jahrhunderts, als sich die Litauer gegen die Fremdherrschaft des russischen Zaren auflehnten und dieser die Aufstände blutig niederschlug. Zum Gedenken an die unzähligen Toten stellten die Einwohner die ersten hundert Kreuze auf einem Hügel auf. Als die baltischen Staaten unter Stalin an die Sowjetunion fiel, waren es schon vierhundert Kreuze.
Die unmenschliche Knute eines Stalin brachte die Menschen dazu, immer mehr Kreuze als stillen Protest aufzustellen. Trotz Verbot und Strafandrohung vermehrten sich die Holzsymbole in rasantem Tempo. Die Sowjets tobten und ließen den Hügel mehrmals restlos plattmachen, mit Raupen planieren. Das letzte Mal 1975. Aber das Dickicht ließ sich nur kurz niederwalzen, es wuchs sofort wieder nach. Gorbatschow erklärte den Wallfahrtsort im Zuge der Perestroika zu einem nationalen Kulturdenkmal. Und auch der Papst war 1993 schon hier, was den Ort endgültig zu einem christlichen Heiligtum werden ließ. Aber auch zu einem Tourismusmagnet.
Die Zahl der Kreuze wird täglich von Hunderten Besuchern aufgestockt. Wer kein Kreuz von Zuhause mitbringt, kann eines an den Verkaufsbuden auf dem Parkplatz kaufen: von einfachsten aufeinander genagelten Kanthölzern, Kreuze aus Metall, welche aus Plastik, bis hin zu kunstvoll geschnitzten Holzkreuzen. Auf dem Parkplatz landen auch die Busse, deren Insassen dann mit einem gerade erstandenen Kreuz in der Hand zum Berg pilgern. Allein ist man hier also vermutlich nur in der kalten Jahreszeit.
Jeder Litauer, den man nach den Sehenswürdigkeiten seines Landes befragt, wird einem zu diesem Berg schicken. So auch am Anfang der litauische LKW-Fahrer, den wir am Check-In-Gebäude in Kiel trafen.
Auf den Berg hinauf, der geschätzte zehn Meter hoch ist, führen Treppen. Links und rechts erstreckt sich ein schier unendliches Meer von Kreuzen. Die mannshohen Kreuze sind mit kleineren behängt. Und diese wieder mit noch kleineren. Die kleinen Kreuze bilden regelrechte Ketten, sie wurden mit dünnen Drähten aneinander gebunden. Dazwischen schlenkern Rosenkränze im sanften Wind. Sie und die vielen kleinen Kreuze bilden eine hypnotisierende Geräuschkulisse: sie klappern, klingen, rascheln und schlagen eine leise Percussion für jeden Wunsch, der mit dem Setzen eines Kreuzes in Erfüllung gehen soll.
Von einem Franziskanerkloster naht eine Prozession. Wir verziehen uns und überlassen den Berg den Gläubigen, die ein größeres Kreuz mit sich führen und es mitten im Hügel mit Hacke und Schaufel einsetzen. Verwunderlich, dass da wirklich noch ein Platz zu finden ist. Denn das Labyrinth christlicher Symbole mäandert schon längst in die Ebene und bildet lange Ausläufer.
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