Motorradtouren Baltikum Tour 2 | Litauen & Lettland & Estland Estland Insel Saaremaa | Halbinsel Sõrve

Insel Saaremaa | Halbinsel Sõrve

Das Mahnmal von Tehumardi aus Beton mit Köpfen von Soldaten

Eigentlich ist die Insel fast zu groß für Rundtouren von einem einzigen Stützpunkt aus. Aber wir wagen einen Versuch. Wenn wir nicht alles sehen sollten – kein Problem. Schließlich gelingt das im Grunde bei keinem unserer Reiseziele. Heute brechen wir nun zu einer kleinen Saaremaa-Rundtour auf. Die Insel ist in jede Richtung etwa neunzig Kilometer lang beziehungsweise breit.

Von Kuressare bis zum Ende der Sõrve-Halbinsel, die wie ein Blinddarmfortsatz 32 Kilometer lang an der Insel hängt, sind es knapp fünfzig Kilometer. Nach nur zwanzig Kilometern Fahrt legen wir auf einem kleinen Parkplatz in Tehumardi einen ersten Stopp ein. Das ist blutgetränkter Boden, von der rauschenden Ostsee gerahmt. Die Schlacht von Tehumardi ging als eine der blutigsten in die Geschichte ein.

Am 8. Oktober 1944 trafen hier unerwartet deutsche und sowjetische Soldaten aufeinander. Nach kurzen, äußerst heftigen Kämpfen blieben hunderte Soldaten auf dem Schlachtfeld zurück. An diese Schlacht erinnern heute in einem Muster aufgestellten Betonplatten mit vielen Namen und ein Mahnmal aus dem Jahr 1967. Direkt hinter dem Mahnmal erstreckt sich die Ostsee.

Sträucher und geringer Bodenbewuchs am Strand von Tehumardi

Als Kurveneldorado kann man die Straßen hier nicht gerade bezeichnen – jedoch diese Landschaft ist es, die einen Reiz auf uns ausübt. Kurz vor dem Kap der Halbinsel stehlen wir uns mit dem Motorrad bis zehn Meter vor die Wasserkante. Der Streifen zwischen Straße und Meer wird von der für Saaremaa typischen Alvarlandschaft geprägt. Der Bewuchs besteht aus diversen trockenheitsresistenten Gewächsen, dazwischen stachelige Wacholderbüsche, die auf einer dünnen Vegetationsschicht über kalkhaltigen Felsplatten wurzeln. Das Felskap ist nicht weit entfernt, der Leuchtturm erscheint zum Greifen nah.

Motorradfahrerin sitzt am Strand und blickt auf in der Ferne liegenden Leuchtturm

Der kieselsteinige Strand wirkt einsam und genau das Richtige zum „Seele baumeln lassen“. Wir sitzen eine Stunde lang am Strand, schauen auf‘s Meer hinaus und denken an nichts. Es ist nicht so warm, dass wir es in der Motorradkleidung nicht gut aushielten. Treibgut und Steine haben es mir schon immer angetan. Ich könnte stundenlang den Strand nach Steinen mit besonderen Merkmalen abscannen.

Letztes Jahr sind wir mit mindestens einem Kilogramm schwereren Gepäck nach Hause gefahren. Aber da hatten wir aus Pannengründen große Sporttaschen zum Transport unserer Motorradklamotten dabei, da passt ja einiges rein. Steine verteilen sich nun mal ganz gut in den eingepackten Motorradstiefeln. Dieses Malhingegen muss ich mich mäßigen. Der handtellergroße Stein, der vor meinen Augen in zwei Hälften zerfällt und eine Armada versteinerte Muscheln präsentiert (gut, ich habe ein klein wenig mit einem anderen Stein nachgeholfen), der muss aber natürlich mit.

Im Hintergrund ehemaliger Beobachtungsposten aus Metall.

Hinter uns, jenseits der Straße, ragt ein weiteres Relikt der Sowjetära in den Himmel: ein roter, rostiger Wachturm. Rund dreihundert Meter landeinwärts wartet das Sõrve-Militärmuseum in einer ehemaligen Grenzschutzbaracke auf Besucher. Verstreut im Gelände liegen Überbleibsel des letzten Weltkriegs, natürlich war auch dieser Zipfel Saaremaas früher militärisches Sperrgebiet. Hätte uns gewundert, wenn nicht.

Auch russische, schwer zu beseitigende Bunker ragen hier noch aus dem Untergrund. Jeder, der in die Rīgaer Bucht einfahren wollte, musste schließlich durch diese dreiundzwanzig Kilometer breite Meerenge, die Irben Straße, zwischen dem lettischen Landzipfel (Hallo Kap Kolka! Wir sehen uns bald wieder!) und dem estnischen Kap Sõrve säär. Der Russe sieht alles. Der Russe hört alles.

Der Leuchtturm von Sorve

Am Leuchtturm herrscht eine stürmische Brise. Bei der Herfahrt war auf der Straße absolut nichts los. Wir sind erstaunt, dass es außer uns doch noch einige andere Besucher hierher geschafft haben. Da rentiert sich sogar der Betrieb eines Souvenirstandes. Verkauft werden verschiedene Keramikgefäße und Küchenwerkzeuge aus Wacholder, das wohl typischste Mitbringsel von Saaremaa. Außerdem Senftöpfchen. Ich schwanke, Senf von Saaremaa? Das wäre doch mal was. Aber unterwegs werden wir kaum welchen benötigen und den bis nach Hause schleppen? Also lassen wir das. Mit dem Motorrad zu verreisen hat schon einen großen Vorteil: den Kauf irgendwelcher Mitbringsel überlegt man sich dreimal.

Motorradfahrerin steht am Strand im Hintergrund ankert ein Fischerboot

An einer Anlegestelle dümpelt ein kleines Fischerboot im Wasser und zwei Surfer versuchen weiter draußen den kräftigen Wellen zu trotzen. Das Leuchtturmwärterhaus strahlt frisch renoviert mit weißen Wänden und grau abgesetzten Fenstern. Wie trostlos und abbruchreif dieses Haus noch vor zehn Jahren ausgesehen hat! Das Internet vergisst nichts, Google spuckt uns das Bild eines bemitleidenswerten Gebäudes aus. Man kann sich nicht vorstellen, dass da noch ein Mensch drin wohnen konnte. Hat aber wahrscheinlich einer: der letzte von neun Leuchtturmwärtern, die hier früher gleichzeitig Dienst taten. Die anderen waren vielleicht für militärische Angelegenheiten zuständig?

Wir verlassen die Halbinsel wieder und wenden uns der nordwestlichen Küste Saaremaas zu. Hier werden wir endlich wieder belohnt: wir schnuppern Fahrtwind und Meeresbrise gleichzeitig. Die Ostsee brandet wenige Meter neben der Straße an einen steinigen Strand.

Malerische Zeltplätze direkt am Meer
Motorrad steht unter Bäumen direkt am Strand.

Im Dorf Veere lädt ein süßer kleiner Hafen Yachten und Fischerboote zu einem Aufenthalt ein. Ein Weg führt wenige hundert Meter weiter in den schmalen Waldgürtel, der die Straße vom Meer trennt. Schade, dass wir kein Zelt dabei haben! Im Wald versteckt sich ein öffentlicher Zeltplatz (Veere RMK telkimisala). Es gibt ein Herzerl-Plumpsklo, eine Feuerstelle und einen Picknicktisch.

Wo man sein Zelt aufschlägt, ist völlig wurscht. Jetzt ist hier keiner, wir sind ganz allein an diesem traumhaften Platz. Wo sonst in Europa gibt es so etwas? Sein Zelt einfach nur in den Wald stellen (Wiese is‘ hier nicht), aus dem Zelt heraus ins Wasser fallen und dann vielleicht nachts noch ganz alleine mit einem Glas Rotwein in der Hand (hier sieht‘s ja keiner von der Ordnungsmacht) in den Sternenhimmel kucken?

Motorradfahrer am Strand vor Plumpsklo aus Holz

RMK ist eine landesweite Organisation, die sich um den Schutz des Waldbestandes kümmert. Sie stellt auf Saaremaa zehn dieser einfachen Campingplätze zur Verfügung. Das ist dann wie Wildcampen, allerdings mit kleinen Annehmlichkeiten. Im Baltikum herrscht bekanntlich das Jedermannsrecht, das besagt, dass jeder zelten und übernachten kann, wo es ihm beliebt. Natur- und Nationalparks ausgenommen. Gerne nimmt man beim Wildcampen so kleine Annehmlichkeiten wie einen Grillkamin und Picknickbänke an. Wenn diese dann wie hier noch direkt am Kiesstrand stehen ... einen romantischeren Platz zum Übernachten gibt es nicht! Wenn wir mal wiederkommen, bringen wir ein Zelt mit.

Schmetterling auf roter Blume auf Wiese

Die Flora und Fauna begeistert uns immer wieder auf‘s Neue. Wir fahren durch dichte Wälder, vorbei an Mooren, Gehölzwiesen und Alvaren. Stundenlang könnte man herumstreifen, sich die Schmetterlinge näher anschauen, sich an Orchideen und krumm gewachsenen Kiefern erfreuen, die der harsche Wind geformt hat. Angesichts der Natur auf Saaremaa kann man der fünfzig Jahre währenden Abschottung sogar einen positiven Aspekt abgewinnen. Saaremaa hatte als westlichster Vorposten der Sowjetunion eine immense strategische Bedeutung, weswegen die Insel komplett zum militärischen Sperrgebiet erklärt wurde. Ein halbes Jahrhundert lang betrat kein Ausländer die Insel. Damit war auch für Esten aus dem Landesinneren der Zugang verwehrt. Auf Grund dieser Isolation – und der erzwungenen Ruhe vor menschlichen Eingriffen – finden wir heute noch eine artenreiche Pflanzenwelt und eine ursprüngliche Kulturlandschaft vor.

Blick aufs Meer von der Steilküste von Panga aus Frau steht vor Klippe im Hintergrund das offene Meer

Zwischendurch wechselt sich der Asphaltbelag mit Schotter ab. Aber die Piste ist breit und der Schotter fein – kein Problem für unsere Bereifung und kein Grund, die Geschwindigkeit zu reduzieren. Wir werden halt vom Staub etwas gepudert.

Saaremaa besitzt eine Steilküste. Wer hätte das gedacht? Zwar nicht die spektakulärste, die wir je sahen, aber das erwartet man auch nicht, wenn man nach Estland fährt. Zwanzig Meter ist sie hoch, die Steilküste von Panga, und wir stehen auf ihr. Natürlich – weil das eine Sehenswürdigkeit ist – fehlt auch der Souvenirstand nicht. Vielleicht wäre das Ganze von unten eindrucksvoller, noch dazu vielleicht am Abend, wenn die Sonne die Felsen in ein gelbrotes Licht taucht?

Der aufmerksame Besucher bemerkt hier etwas Unheimliches. Die Wellen, die an dieser Stelle auf die Steilküste zulaufen, erreichen die Küste in einem großen Halbrund. Einige hundert Meter seewärts fällt der Meeresboden jäh ab, dadurch entstehen diese ringförmige Wellen. Sicher war das auch deshalb für die estnischen Heiden in Urzeiten ein perfekter Platz, um ihren Göttern Opfer zu bringen. Noch bis zum Ende des Nordischen Krieges, also Ende des 18. Jahrhunderts, sollen die Fischer vor der Steilküste Kinder im Meer geopfert haben, um den Gott des Meeres durch ihre Gabe versöhnlich zu stimmen. Wuuuh, gruslig!

Apropos Götter. Bezeichnen sich die Esten nicht als die letzten Heiden Europas? Vor Tausenden von Jahren kannte man im Baltikum und so auch in Estland nicht nur einen Gott, sondern viele. Bäume, vornehmlich Eichen, Seen, Steine, ganz besonders Findlinge, gelten bis heute als heilig. Zwar missionierte der Schwertbrüderorden, später der Deutsche Orden, im Auftrag des Papstes vor Jahrhunderten die baltischen Heiden, doch jegliches öffentliche Ausleben der Religion wurde während der Sowjetzeit unterdrückt, so dass der christliche Glauben heute eine ziemlich untergeordnete Rolle spielt.

Motorrad fährt auf Straße an Holzhaus vorbei

Weiter geht’s. Es ist sauwindig, wie schon die ganze Zeit. Ist der Wind stärker geworden? Oder trifft er mich aus einem anderen Winkel? Jedenfalls nervt er mich langsam aber sicher. Im Helm dröhnt und pfeift es wie Hölle. Jetzt wäre ich froh, könnte ich mir Ohropax in die Hörgänge pfropfen. Habe ich aber nicht dabei. Also werde ich das Gepfeife wohl aushalten müssen. Hab ich ja schon oft genug. Natürlich bin ich schon mit Ohrstöpsel unter‘m Helm gefahren, aber wirklich angenehm war das auch nicht. So mit einer Wolkenwatte-Akkustik im Helm. Da machen einen zwar die Windgeräusche nicht mehr fertig, aber was mach ich, wenn der Göttergatte etwas anzumerken hat? Schließlich hör ich – im Normalfall – auf ihn ...

Motorrad steht vor den drei Windmühlen von Angla

Die Böden sind im Südosten der Insel etwas fruchtbarer als im Westen. Das fällt sofort auf, denn hier sieht man viel mehr Felder, die landwirtschaftlich genutzt werden als im Westteil der Insel. Sogar Rapsfelder mit ihren leuchtend gelben Blüten säumen die Straßen. Inmitten dieser abwechslungsreichen Landschaft ragen fünf Windmühlen in den Himmel. Keine Postkarte und kein Bildband kommt ohne die Windmühlen von Angla aus. Sie sind das Wahrzeichen der Insel.

Die Bockwindmühlen werden von einem starken Pfosten getragen und können damit je nach Windrichtung gedreht werden. Sie sind zweigeschossig, man kann hineinklettern und den Mechanismus begutachten. Unten die Mühlsteine, oben die Mahlvorrichtung, die mit den Flügeln in Verbindung stehen. Während großem Besucherandrangs wird es heftig eng in den Mühlen. Es ist nicht vorgesehen, dass mehr als zwei Personen gleichzeitig die steilen Treppen und Leitern hinauf und herunter klettern. In früheren Zeiten hatte fast jeder Hof auf Saaremaa seine eigene Mühle, es sollen über achthundert Stück gewesen sein. Leider sind nur noch sehr wenige erhalten.

Lettland: Dunte | Münchhausen
detailansicht