Motorradtouren Baltikum Tour 2 | Litauen & Lettland & Estland Estland Võsu

Lahemaa | Käsmu – Dorf der Kapitäne und Dorf der Witwen

Bucht in Käsmu mit halb im Wasser liegenden Felsbrocken

Wir cruisen schön behäbig zur nächsten Halbinsel. Die Straße hat keine Fahrbahnmarkierungen und trägt eine Decke aus einem rauen, groben Asphalt. Rechts und links surren hohe Bäume an uns vorbei. Der Wald ist unergründlich tief und mit Mooren sowie kühlen Bächen durchzogen. Wir fahren kilometerweit durch den Wald, schönen Wald, kühlen Wald, aber leider ohne jede Aussicht. Aber wir werden entschädigt. Bald.

Käsmu (Kasperswiek) liegt etwa fünf Kilometer nordwestlich von Vösu. Man nennt es das Dorf der Kapitäne, da hier von 1884 bis 1931 eine Seeschifffahrts-Schule betrieben wurde und Kapitäne des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts vielfach aus dieser Kaderschmiede kamen. Aber auch Dorf der Witwen hieß es, je nach Betrachtungsweise. In jedem zweiten Haus wohnte die Witwe eines Kapitäns, der sein nasses Grab in den Weltmeeren gefunden hatte. Nicht weniger bekannt war das Dorf auch als Schmugglernest. Finnland hatte von 1920 bis 1930 Alkohol komplett verboten, weswegen die Esten sich eine einträgliche Verdienstquelle schufen, in dem sie Alkohol über den achtzig Kilometer breiten finnischen Meerbusen schmuggelten.

Bucht in Käsmu mit großem Fels am Ufer

Nehmen wir einmal die Landkarte der baltischen Staaten und speziell Estland zur Hand. Die Lage des Lahemaa-Nationalparks ist mit vier in die Ostsee hineinragenden Zipfeln, ganz in der Mitte der nach Norden ausgerichteten Ostseeküste, zu erkennen. Da wo vier Landzungen und die Region darunter so durchgehend in der Farbe Grün eingezeichnet sind, befindet sich dieser Nationalpark.

Die Küste war zu Sowjetzeiten militärisches Sperrgebiet und konnte nur mit Sondergenehmigung betreten werden. Wer ein seetüchtiges Boot hatte, wäre wie schon erwähnt nach achtzig Kilometern in Finnland gewesen. Wäre. Denn die sowjetische Grenzsicherung war gut organisiert. Der Strand wurde mit einem Zaun abgesperrt und mit Hunden bewacht.Nur mitten im Dorf, dort, wo wir später die Jetskifahrer beobachten, gab es einen kurzen Strandabschnitt, an dem man tagsüber in die kühle Ostsee steigen konnte. Auch weitere Schikanen machten den Dorfbewohnern das Leben schwer. So durften sie die Dorfstraße ab 22 Uhr abends nicht mehr betreten. Kann man sich das vorstellen?! Wer hier schon sein Leben lang gewohnt hat, wird inständig auf den Abzug der Russen gehofft haben. Dass dies dann in den 90ern wirklich eintritt, das hat sicher niemand mehr zu hoffen gewagt.

Eine Einwohnerzählung von 2011 verzeichnet in Käsmu nur reichlich einhundert Einwohner, also müssen die vielen Menschen, die uns entgegenkommen, alles Urlauber sein. Es ist deutlich mehr los als in Vergi. Die Holzhäuser links und rechts der Straße sind schick hergerichtet und in weiß oder hellen Farbtönen gestrichen. Die meisten Gebäude werden als komplette Ferienhäuser vermietet oder von den Tallinnern als Wochenendresidenz genutzt.

In den Wäldern, aber auch am Straßenrand und in den Gärten der Häuser liegen zentnerschwere, manchmal mit Moos bewachsene, runde Steine, die selben, die auch den Strand überall sprenkeln. Käsmu schmückt sich mit dem größten Findlingsfeld des ganzen Landes, im Nationalpark gibt es davon Tausende. Wenn es ein Wahrzeichen gibt für die baltische Ostseeküste – dann sind es diese Findlinge. Sie wurden vor 11.000 Jahren von den Gletschern der letzten Eiszeit von Skandinavien an die estnische Küste getragen. Das ist wissenschaftlich erforscht. Weniger erforscht, aber der Glaube der Esten ist es, dass das Verrücken der Steine Unglück bringe. Sicher hat man dann auch Häuser um die Steine herum gebaut.

Einblick in die Ausstellung im Meeresmuseum in Käsmu

In einem Gebäude, das früher als Seemannsschule und zu Sowjetzeiten fünfzig Jahre lang als Grenzschutzhaus diente, ist heute ein kleines Meeresmuseum untergebracht. Oder anders: die Sammlung von Aarne Vaik, die sich Meeresmuseum nennt. EinSammelsurium, in dem viel Herzblut des Esten steckt, dessen Familie seit 300 Jahren in Käsmu lebt. An den Wänden hängt Werkzeug, von dem man teilweise nicht einmal ahnt, in welcher Weise man es nutzen kann. Auf groben Dielen stapelt sich derbes,aufgerolltes Tauwerk, ein Dutzend Flaschenzüge aus Holz, dessen Alter nur ehrfürchtig schätzbar ist. Darauf drapiert liegt ein großes Schiffsmodell. Die gesamte Länge des Nachbarraums wird von einem Einbaumkanu ausgefüllt, wie es hier seitJahrhunderten gebaut wird. Hunderte Stunden Arbeit steckt in einem solchen Arbeitsgerät. Man sieht es ihm nicht an.

Einblick in die Ausstellung im Meeresmuseum in Käsmu Langes Boot im Meeresmuseum ausgestellt

Sämtliche Urahnen seien Seefahrer gewesen, berichtet Aarne. Wir schätzen ihn auf mindestens 70 Jahre, vielleicht auch älter. Mit der kinnlangen Haarpracht und der obligatorischen Mütze auf dem Oberkopf wirkt der studierte Biologe auf uns wie ein Künstler. Dieser Eindruck ist nicht einmal verkehrt: er arbeitet ein paar Stunden für den Schriftstellerverband, aber in seiner Freizeit hat er Hunderte Bilder gemalt, die alle das gleiche Motiv, seinen Blick aus dem Fenster auf das Meer zeigen. Den Rest des Tages widmet er sich seiner großen Leidenschaft, dem Sammeln und Bewahren der Seefahrergeschichte. Wer diesen Blick auf das Meer sofort, jetzt und hier in der heimischen Wohnstube, beim Lesen genießen will, der schaue einfach mal ins Internet, gebe „Käsmu Webcam“ ein und klicke auf den ersten Treffer. www.kasmu.ee. Diese Webcam ist bei Aarne Vaik installiert und zeigt genau den Blick aus dem Fenster, den er so liebt. Verständlicherweise. Mit ein bisschen Glück kann man auch Polarlichter, einen Fuchs oder anderes Getier beobachten. Angeblich soll auch ein Wolf schon mal vor der Linse aufgetaucht sein.

Blick auf das Meer hinaus beim Fenster des Meeresmuseums

Einer der Findlinge am Strand ist drei Meter hoch, eine kleine Leiter hilft ihn zu erklimmen. Daneben ist ein ausrangiertes Boot installiert, mit einem Tisch darin. Ein Picknickplatz, stimmungsvoller geht’s nicht. Und das Hüttchen daneben? Ist es eine kleine Sauna? Und nun ein bisschen Füße baden ... Mal schauen, wie kalt die Ostsee ist. Naja, das ist schon kühl ... 16 – 17 °C, vielleicht auch 18-19 °C, es lässt sich schwer einschätzen. Aber wärmer als 20 °C wird die Ostsee ja selten.

Auf dem Wasser versuchen sich drei junge Männer am Jetskifahren. Einer davon ist offensichtlich Anfänger und plumpst ständig ins kühle Nass. Wenn man seine Miene aus der Ferne auch nicht sehen kann, aber spaßig sieht anders aus. Er benutzt ein Gerät, auf dem er stehen muss und mit einem Teil steuert, den er zu sich zieht – vielleicht liegt es daran? Dieser Jetski scheint viel Gleichgewichtssinn und Erfahrung zu erfordern. Als er dann mit dem anderen Fahrer tauscht, sieht seine Fahrt wesentlich eleganter aus, denn von dem Jetski, auf dem er sitzen kann fällt er nicht so leicht herunter. Direkt hier steht auch das einzige Relikt aus sowjetischen Zeiten, das von der Abgeschirmtheit dieser Region berichtet: ein Wachturm. Ein eiserner Turm, viele Meter hoch, verrostet und nutzlos. Nutzlos bis auf die Mahnungen, dass Freiheit ein hohes Gut ist.

Ein malerisches Fischerdorf ist auch Altja, es liegt nur drei Kilometer von Vergi entfernt. Dort existiert ein uriges Restaurant, das estnische Speisen in einem fensterlosen Blockhaus mit Reetdach serviert. Jedoch nicht heute Abend. Warum auch immer. Als wir hinkommen, gäbe es nur etwas trinken, jedoch nichts (mehr) zu essen. Vielleicht haben sie den Koch schon heimgeschickt, um kurz nach neunzehn Uhr wären wir die letzten Gäste gewesen... ? Vielleicht verpassten wir die einzige Chance, typische estnische Gerichte zu genießen? Schade, so landen wir wieder – wie schon am Vortag – im Restaurant am Hafen von Vergi.

Auf dem Rückweg nach Vergi bemerken wir die ersten Ausfallerscheinungen am Motorrad: die Tachonadel bewegt sich keinen Deut mehr. Die Tachowelle ist wohl gebrochen. Okay, nicht weiter schlimm, unser Navi zeigt ja auch die Geschwindigkeit. Aber nach unserer Pannenserie letztes Jahr sind wir fast abergläubisch geworden, irgendwie achtet man viel mehr auf Dinge, die Ungemach ankündigen.

Viru Moor
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