Von der Böhmischen Schweiz nach Südböhmen: Tábor
Unsere Dicke wird aus ihrem Gefängnis vom Hotel Praha* vier Meter über der Straße befreit und darf wieder Aufzug fahren. Der Himmel ist mit Wolkenwatte verdüstert. Als wir losfahren, schmeißt der Regengott die ersten Tropfen auf uns. Verflixt! Aber obwohl es regnet, wird die Straße kaum naß und nach 50 Kilometern Fahrt ist Ruhe mit der flüssigen Sonne. Geplant sind heute rund 280 Kilometer Fahrt bis Tábor in Südböhmen, wo wir zwei Nächte bleiben wollen.
Der Boxer brummelt gemütlich durch die hügelige Landschaft. Mal geht’s bergauf, dann wieder kurven wir mit stetigem Gefälle bergab. 12% Gefälle – keine 10%, 9% oder 13%. Nein, immer 12% Gefälle/Anstieg steht auf den Schildern. Die Berge sind mit einer Schablone errichtet, oder?
Unsere Theorie nach konnte die sozialistische Marktwirtschaft nur ein einziges Achtung-Schild für gefährliches Gefälle produzieren. Varianten mit anderen Prozentzahlen waren einfach nicht drin. Deshalb gibt es jetzt in den böhmischen Bergen nur Gefälle mit 12% – andere Zahlen wurden per Mangelwirtschaft aus dem Alltag verbannt.
Nordwestlich von Prag gondeln wir über winzige, mäßig interessante Sträßchen. Hey, da waren Kirschbäume am Straßenrand! Anhalten! Aber Jochen düst vorbei ... Hmmm. Er kennt mich, ich würde mindestens eine Viertelstunde am Baum herum zupfen und unseren Tankrucksack voll Kirschen stopfen. Aber er hält stur die Richtung, als hätte er mein Rufen nicht gehört. Schuft! Natürlich halte ich nach weiteren Kirschbäumen Ausschau, doch da sind nur noch alte knorrige Feigenbäume ...
Plötzlich tupfen Hunderttausende weisse Mohnblumen die Landschaft. Ein wunderschöner Anblick, diese handtellergroßen Blüten mit dem fuchsiafarbenen Blütenböden! Über 60 Prozent der weltweiten Mohnproduktion stammt aus Tschechien. Der tschechische Mohnsamen landet vorwiegend auf den Kolatschen und in Kuchen. Die Kapseln des tschechischen Lebensmittelmohns enthalten nur ein Zehntel des Morphin-Gehalts afghanischer Mohnsorten. Trotzdem wird der Abfall nach der Mohnsamenernte zur Morphiumproduktion bei einem tschechischen Pharmakonzern weiterverwertet. Auch dass die Prager Junkieszene die Felder und Wälder zur Erntezeit als Campingausflug besucht, ist nicht verwunderlich. Aber besser, man steigt in dieses Thema nicht tiefer ein.
Im Landkreis Beroun werden die Wälder dicht und dichter. Dunkle, unendlich kurvige Straßen, die unter dem schweren Blätterdach nur wenig Licht abbekommen. Wir sind im Böhmischen Karst, der Berounka, in dem seltene Pflanzenarten heimisch sind. Im 129 qkm großen Naturschutzgebiet gedeihen nicht nur seltene Pflanzen, auch eine buntfarbene Spezies explodiert regelrecht: die Kanuten auf dem Fluss.
„Jetzt überhol endlich!“ Das Problem auf den verschlungenen Straßen sind nicht die Radler, sondern die Autofahrer, die sich partout nicht zu überholen trauen. Die Berounka ist sehr beliebt bei Radfahrern, allein schon an der schieren Unmenge Muskelpedalos erkennt man, dass man in die Berounka eintaucht. Am Flüsschen Beroun liegt die Stadt Karlštejn, berühmt für Hrad Karlštejn, die wohl bekannteste Burg Tschechiens. Kaiser Karl IV. ließ die Burg zur Aufbewahrung seiner Kronjuwelen im 14. Jahrhundert erbauen. Wo sind wir denn hier hingeraten? Hier herrscht links und rechts der Hauptstraße ein Trubel wie in der Prager Burg. Pferdekutschen warten auf lauffaule Kundschaft, die sich auf die Burg chauffieren lassen möchten und zahllose Besuchergruppen pilgern die Hauptstraße entlang.
Disneyland Karlštejn
Jeder Einwohner von Karlštejn, der irgendwie kann, versucht im Tourismus Fuß zu fassen, sei es im Hotel- oder im Restaurantgewerbe. Denn eine Million Besucher jährlich wollen schließlich verköstigt werden. Die Nähe zu Prag lässt vermuten, dass es vor allem Tagesausflügler sind, die die Burg stürmen. In dem ehrwürdigen Gemäuer, thronend auf einem hohen Kalksteinfelsen, wurden im 19. Jahrhundert ohne Fingerspitzengefühl Umbauten und Restaurierungen vorgenommen, die das Innere nicht besonders sehenswert machen. Sagt zumindest unser Reiseführer aus dem Michael-Müller-Verlag. Wer sich mit dem Gedanken trägt, die Burg anzuschauen, sollte sich die Bewertungen in Google durchlesen. Der Eintritt kostet sage und schreibe 12,– Euro pro Person. Dazu kommt die Parkgebühr von 8,– Euro. Zudem soll es zugehen wie in einer Plastikburg in Disneyland – also was sollen wir da? Diesen Trubel tun wir uns nicht an.
Einzelne Straßenabschnitte sind manchmal grottenschlecht: große Wellen, unverhofft und tief, hebeln uns aus dem Motorradsattel. Einige Kilometer später findet uns die Motorradfahrer-Ärgerwolke. Wir hoffen schon seit geraumer Zeit, dass wir nicht in den Regenschleier der Wolken steuern müssen, die sich links und rechts unserer Route immer wieder entladen. Wer auch immer Schuld ist, unsere Route oder die Route der Wolke: so schnell wie sie uns erwischt, kommen wir nicht in die Regenpellen. Wir pressen uns an die Holzwand einer alten Scheune. Nach einigen Minuten ist der Regen vorbei ... Denken wir. Und fahren weiter. Nach zwei Minuten sind wir pitschnass. Durch die Hosen rinnt das Wasser. Die Membran klemmt gut verpackt im Koffer.
Wir erreichen Tábor und damit auch die Penzion Z&Z*, in der wir ein kleines Appartement mieten. Heute ist Samstag und wir fahren schnell noch zu einem Supermarkt, in dem Glauben, dass wir morgen nicht einkaufen gehen können. Die großen Supermärkte Tschechiens haben jedoch auch sonntags geöffnet. Das stellen wir erst beim Verlassen des BILLAs fest, in dem wir viel zu viele Leckereien für unser heutiges und morgiges Abendessen kauften. Mit Hunger einkaufen ist immer Sch... Bei der Heimfahrt ragen Semmeln und eine Flasche Wasser aus dem Tankrucksack heraus. Tschechisches „Cerne pivo“ musste natürlich auch noch mit.
Stadtrundgang in Tábor
Morgens bringt uns Zdenka, unsere Gastgeberin in der Penzion Z&Z*, das Frühstück auf's Zimmer. Wow! Jeder, der mit dem größten Frühstück der Welt in den Tag starten will, sollte nach Tábor fahren und bei Zdenka übernachten! Der Pudding gefällt uns besonders gut, KTM-Fahrern vermutlich weniger ...
Der Stadtrundgang beginnt mit ein klein wenig Frühsport für die müden Beine: wir besteigen den Turm der Burg Kotnov, die sich an das einzige erhaltene Stadttor (Bechyne-Tor) anschließt und Teil der alten gotischen Burganlage ist, unter deren Schutz Tábor stand.
Von oben blickt man über ein weites Meer aus roten Ziegeldächern. Die Stadt wurde von Hussiten gegründet, die sich 1419 in den Schutz der Burg flüchteten. Ihr Anführer Jan Hus war wenige Monate vorher in Konstanz von der Kirche als Ketzer hingerichtet worden, weil er – 100 Jahre vor dem Reformator Luther – den Verzicht auf weltliche Macht und Güter forderte. Um seine Anhänger nieder zu halten, verbrannte man ihn, erreichte dabei in Böhmen aber genau das Gegenteil: Hus wurde zum Märtyrer und Nationalhelden der Tschechen, sein Todestag ist noch heute ein Nationalfeiertag.
Nichts gehört mir. Nichts gehört Dir.
Die Thesen der religiösen Gemeinschaft der Hussiten hören sich wie kommunistische Ideen an. „Nichts gehört mir, nichts gehört dir, alles gehört allen.“ Männer und Frauen hatten gleiche Rechte und sämtlicher Besitz musste der Gemeinschaft übereignet werden.
Als einer der radikalsten Führer der hussitischen Bewegung wurde Jan Zizka bekannt, der es mehrmals mit dem Kreuzfahrerheer aufnahm. Die Gassen der Stadt gehen noch immer auf genau die gleiche Anlage zurück, wie sie anfangs des 15. Jahrhunderts geplant wurde. Eng und verwinkelt – so ließen sich die Häuser bei einem Angriff am besten verteidigen.
In Tábor gibt es für Handwerker noch viel zu tun, die Stadt ist jedoch durchaus für einen Tagesaufenthalt gut. Es flanieren zwar einige Tagesausflügler durch die holprigen Gassen und am Hauptplatz warten zwei Kutschengespanne auf Kundschaft, aber japanische Heerscharen wird man hier nicht treffen.
Ein ziemlich heruntergekommenes Haus wird gerade in Stand gesetzt. An einigen Stellen kann man von außen durch Lücken im Mauerwerk bis in die Innenräume schauen. Die Fenster sind schon neu gesetzt, doch das Mauerwerk darum herum ist ziemlich malade. Irgendwie hätten wir eine andere Renovierungsreihenfolge bevorzugt. Erst die Mauern ... Aber vielleicht sind das die tschechischen Eigenheiten? In dem großflächig abgebröckelten Putz lassen sich viele ältere Putzschichten erkennen. Einfarbig, mehrfarbig, auch motivhaft gestalteter Kratzputz ist darunter.
Italienische Renaissance-Baumeister brachten im 16. Jahrhundert eine Technik ins böhmische Land, für die tschechische Häuser heute noch berühmt sind: Fassaden mit zweifarbigen Kratzputz, Sgraffito genannt. Die Fassaden werden dabei mit einer dunklen Putzschicht versehen, die mit einer dicken, hellen Farbschicht übertüncht wird. Noch bevor der Putz getrocknet ist, werden Teile der hellen Farbschicht wieder herausgekratzt, so dass Ornamente und Muster entstehen. Manche Häuser sind mit den wiederkehrenden Kacheln geschmückt, die einen fast dreidimensionalen Eindruck hinterlassen und die man zum Beispiel so ähnlich auch aus römischen Mosaiken kennt. Andere, finanziell vermutlich besser gestellte Hausbesitzer ließen ihre Fassaden mit figürlichen Sgraffito-Gemälden ausstatten.
In Tábor benutzt die Müllabfuhr noch die runden Blechmülltonnen, die mit dem kleinen Buckel im Deckel, an dem man die Tonnen beim Rollen in der Bahn hält. Wie lange gibt es die in Deutschland schon nicht mehr? Zwanzig Jahre? Dreißig? Gab es in Tábor einen Mülltonnen-Malwettbewerb? Die meisten Tonnen sind witzig und schrillbunt angemalt. Kein Abfallbehälter gleicht dem des Nachbarn. Sogar die des Schokoladenmuseums sind themenbezogen verziert.
Schokolade. Nichts als Schokolade!
Die Stadt beherbergt viele nette Restaurants und auch Galerien mit echter Handwerkskunst wie Schmuck und Töpferwaren. Ramschige Souvenirläden sucht man vergebens. Als wir „Schokoladenmuseum“ lesen, ist uns klar, da müssen wir rein! Wir steigen in den Keller hinab, dort finden wir mit Puppen dargestellte, audiovisualisierte Märchen. Alles in Tschechisch.
Wohlwollend laufen wir durch die Räume, ohne ihnen wirklich viel abgewinnen zu können. Tschechische Kinder sind wohl am glücklichsten hier. In den oberen Räumen wird die Herstellung von Schokolade und Marzipan erklärt, aber den Mammutanteil der Ausstellungsobjekte bilden große Marzipanfiguren, bekannte Figuren aus Film und Fernsehen. Garfield ist einer davon, bestehend aus fünf Kilogramm Marzipan.
Vom integrierten Café aus schauen wir den Konditoren durch ein Glasfenster bei der Herstellung von Torten zu und verhungern fast vor der Süßwarentheke, weil wir uns nicht entscheiden können, welche der überaus kunstvollen Pralinen und Süßspeisen wir kaufen sollten. Wir entscheiden uns für dunkelbraunes Schokoladeneis mit Chilli. Sehr lecker. Die Abrechnung des ganzen Vergnügens (inklusive Eintrittsgebühr) erfolgt mit einem Chip. Draußen wird der Müll noch in Blechtonnen der Hippie-Ära gesammelt, doch drinnen ist man auf dem neuesten Technikstand.
Am nächsten Morgen ist schon alles fertig gepackt, als Zdenka von der Penzion ZZ* uns das gigantische Frühstück bringt. „Wenn ihr es nicht schafft“, meint sie, „bring ich euch Folie zum Einpacken!“ Welche Ansage! Dieser Berg von Frühstück ist garantiert nicht zu schaffen, außer man hätte sich vorher für mehrere Tage in einer böhmischen Karsthöhle verirrt und sei dementsprechend ausgehungert. Aber Böhmen und Hunger – das passt einfach nicht zusammen.
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